Pflegegesetz

Verlierer der Reform

Jüdische Gemeinden müssen oft Lücken im Pflegesystem kompensieren. Foto: Thinkstock

Pflegegesetz

Verlierer der Reform

Jüdische Betroffene haben das Nachsehen

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  21.11.2016 17:25 Uhr

Rachel D. hat ihr Leben lang gearbeitet. Nun, im Alter von 89 Jahren, wird sie im Nelly-Sachs-Haus, dem Elternheim der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, betreut. Denn Rachel D. ist pflegebedürftig. Am 1. Januar 2017 wird sie um zwei Pflegegrade heraufgestuft.

Dann tritt das neue Pflegegesetz in Kraft. Laut Reform stehen ihr über den doppelten Stufensprung hinaus zusätzliche Betreuungsleistungen zu. Insbesondere Menschen mit Demenz sollen höher eingestuft und damit besser versorgt werden. So wie Rachel D. haben alle Pflegebedürftigen darauf Anspruch, die laut Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI), also über die gesetzliche Pflegekasse, versichert sind.

Auch Zinaida P. lebt im Nelly-Sachs-Haus. Als sie Anfang der 90er-Jahre als sogenannter jüdischer Kontingentflüchtling aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland kam, war sie Anfang 60. Hinter ihr lag ein erfülltes Berufsleben. Dank der jüdischen Gemeinden und Dachverbände hat sie sich schnell integriert, sprachlich wie sozial.

Da Zinaida P. bei ihrer Ankunft unter das Kontingentflüchtlingsgesetz fiel, ist auch sie automatisch leistungsberechtigt – allerdings laut Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Für ihren Status zuständig ist somit nicht das Bundesgesundheitsministerium, sondern das Ministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).

benachteiligung Zinaida P. ist eine von derzeit etwa 1000 jüdischen Pflegebedürftigen, die voraussichtlich nicht in den Genuss des doppelten Stufensprungs und der zusätzlichen Betreuungsleistungen kommen werden. Sie sind somit Verlierer der Pflegereform – so sieht es die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Der jüdische Wohlfahrtsverband ist von dem Gesetzesvorhaben enttäuscht.

»1989 traf die Bundesrepublik die bewusste Entscheidung, jüdisches Leben in Deutschland durch den Zuzug jüdischer Zuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion wieder aufzubauen – heute machen durchschnittlich 75 Prozent der Bewohner jüdischer Einrichtungen der vollstationären Altenhilfe diesen Personenkreis aus«, betont ZWST-Präsident Abraham Lehrer.

Zum großen Bedauern der ZWST sehe der aktuelle Kabinettsentwurf »zwei erhebliche Benachteiligungen für einen Großteil jüdischer Pflegebedürftiger vor«, so Lehrer. Es sei nun am BMAS, »die Entscheidung aus dem Jahr 1989 verantwortungsvoll auf das Jahr 2016 zu übertragen und durch eine Änderung des SGB XII einen gleichberechtigten Umgang mit pflegebedürftigen Juden zu ermöglichen«.

schieflage Beim BMAS beharrt man jedoch darauf, dass sich »eine Überleitungsregelung in der Hilfe zur Pflege aus den Leistungen ergibt«, die »aufgrund einer gesetzlichen Grundlage durch die Träger der Sozialhilfe erbracht« worden seien, wie eine Sprecherin der Jüdischen Allgemeinen mitteilte.

Das sei eine »erhebliche Schieflage« und verstoße »ohne klar erkennbare Gründe gegen das Gleichheitsprinzip«, meint hingegen Bert Römgens, Leiter des Nelly-Sachs-Hauses. Der Gesetzgeber habe »den großen Fehler gemacht, die Zusatzleistungen nicht auch für Nicht-Versicherte umzusetzen«. Drei Viertel der jüdischen Pflegebedürftigen fallen somit bei der Reform herunter.

Die jüdischen Gemeinden kompensieren die fehlenden Leistungen aus eigenen Ressourcen. Römgens weiß, wovon er spricht. Er vertritt die ZWST im Fachausschuss Altenhilfe bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW).

»Nehmen wir etwa das Nelly-Sachs-Haus«, sagt Römgens. »75 Prozent unserer Bewohner werden über das Sozialamt finanziert, 25 Prozent über die Pflegekasse. Da können wir doch nicht sagen, Frau D. erhält eine Alltagsbegleitung, weil sie das Glück hat, SGB-XI-versichert zu sein, und Frau P. bekommt sie nicht, weil sie über das Sozialamt versichert ist – das ist nicht nur unethisch, sondern auch unjüdisch.«

Die Gründe für den »Nicht-Versicherten«-Status sind vielfältig: Zum einen wurden die Berufsabschlüsse oftmals nicht anerkannt. Zum anderen fehlen Sozialversicherungsabkommen mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – und damit auch der Rentenausgleich. Eine Ausnahme bilden laut BMAS Spätaussiedler – anders als jüdische Zuwanderer können sie Rentenansprüche »entsprechend den in die deutsche gesetzliche Rentenversicherung eingezahlten Beiträgen« geltend machen.

Nachbesserung In Kombination mit dem SGB-XII-Status wirkt sich bei jüdischen Zuwanderern zudem die demografische Altersstruktur auf eingeschränkte Pflegeansprüche und spätere Altersarmut aus: Bei ihrer Ankunft in Deutschland waren rund 100.000 Menschen zwischen 40 und 80 Jahre alt. Bert Römgens hält daher Nachbesserungen im Entwurf für dringend nötig, etwa durch Gleichstellung von SGB XI und XII.

Unterstützt wird er dabei von Volker Beck. Der grüne Bundestagsabgeordnete setzt sich seit Langem dafür ein, das gravierende Problem der Altersarmut jüdischer Zuwanderer angemessen anzugehen. »Sicherlich war es von Gesetzgeberseite nicht beabsichtigt, durch die Pflegereform jüdische Senioren strukturell zu benachteiligen«, sagte Beck der Jüdischen Allgemeinen.

»Daher würde ich mir wünschen, dass dies im parlamentarischen Verfahren noch korrigiert werden könnte.« Möglich wäre dies noch bis Anfang Dezember. Dann können die parlamentarischen Ausschüsse letzte Änderungsanträge einbringen.

Australien

Polizei: Angreifer in Sydney waren Vater und Sohn 

Weitere Details des judenfeindlichen Terroranschlags werden bekannt

von Denise Sternberg  14.12.2025

Hintergrund

Der Held von Sydney

Laut australischen Medien handelt es sich um einen 43-jährigen muslimischen Vater von zwei Kindern, der einen Laden für lokale Produkte betreibt

 14.12.2025

Jerusalem

Israels Regierungschef wirft Australien Tatenlosigkeit gegen Judenhass vor

Nach einem Anschlag in Sydney fordert Netanjahu von Australien entschlosseneres Handeln gegen Judenhass. Er macht der Regierung einen schweren Vorwurf

 14.12.2025

Kommentar

Müssen immer erst Juden sterben?

Der Anschlag von Sydney sollte auch für Deutschland ein Weckruf sein. Wer weiter zulässt, dass auf Straßen und Plätzen zur globalen Intifada aufgerufen wird, sollte sich nicht wundern, wenn der Terror auch zu uns kommt

von Michael Thaidigsmann  14.12.2025

Meinung

Blut statt Licht

Das Abwarten, Abwiegeln, das Aber, mit dem die westlichen Gesellschaften auf den rasenden Antisemitismus reagieren, machen das nächste Massaker nur zu einer Frage der Zeit. Nun war es also wieder so weit

von Sophie Albers Ben Chamo  14.12.2025 Aktualisiert

Anschlag in Sydney

Felix Klein: »Von Terror und Hass nicht einschüchtern lassen«

Zwei Männer töten und verletzen in Sydney zahlreiche Teilnehmer einer Chanukka-Feier. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung äußert sich zu der Tat

 14.12.2025

Terror in Sydney

Zivilist entwaffnet Angreifer und wird als »Held« gefeiert

Zwei Männer schießen auf Teilnehmer einer Chanukka-Feier in Sydney: Es gibt Tote und Verletzte. Ein Video soll nun den mutigen Einsatz eines Passanten zeigen

 14.12.2025

Australien

Merz: »Angriff auf unsere gemeinsamen Werte«

Bei einem Anschlag auf eine Chanukka-Feier in der australischen Metropole gab es viele Tote und Verletzte. Der Bundeskanzler und die Minister Wadephul und Prien äußern sich zu der Tat

 14.12.2025 Aktualisiert

Terror in Sydney

Zentralrat der Juden: »In Gedanken bei den Betroffenen«

Der Zentralrat der Juden und weitere jüdische Organisationen aus Deutschland äußern sich zu dem Anschlag auf eine Chanukka-Feier im australischen Sydney

 14.12.2025 Aktualisiert