Feindbild

Sündenbock gesucht

Klischee von altersher: der »reiche Jude« auf einem völkischen Wahlplakat der Weimarer Republik Foto: ullstein

Feindbild

Sündenbock gesucht

In Wirtschaftskrisen wächst der Antisemitismus – heute nimmt er die Gestalt der »Israelkritik« an

von Micha Brumlik  11.07.2012 12:08 Uhr

Wo bleibt eigentlich der Antisemitismus? Europa, die Welt, wird von der schwersten Wirtschaftskrise seit den 30er-Jahren geschüttelt, und die üblichen Begleiterscheinungen, vor allem Judenhass, paranoide Verschwörungstheorien und politische Radikalisierung, scheinen – derzeit noch – auszubleiben. Gewiss, in Norwegen, einem Land, dem es vergleichsweise gut geht, besteht ein antizionistisch instrumentierter Judenhass; in Griechenland sitzt eine neonazistische Partei im Parlament, in Ungarn schließlich führt eine nur mühsam den demokratischen Anstand wahrende nationalistische, rechtsradikale Partei nicht nur die Regierung, sondern verfügt auch über die Mehrheit aller Parlamentssitze.

In Ungarn grassiert deshalb eine kulturell bemäntelte Judenfeindschaft, wie sie seit der europäischen Zwischenkriegszeit überwunden schien. Bei alledem ist die wachsende, in fast allen europäischen Ländern und unter allen Bevölkerungsschichten verbreitete Feindschaft gegen den Staat Israel noch nicht berücksichtigt.

Anstieg Als Meinung, wenn auch (noch) nicht als politische Kraft, ist der europäische Antisemitismus derzeit weit verbreitet und in den vergangenen Jahren gestiegen: Die Untersuchung der Anti Defamation League erhob 2009 in Frankreich Spitzenwerte von 45 Prozent, in Ungarn von 63, in Spanien von 53 und in Polen von 48 Prozent; in Deutschland und Österreich fallen die Werte niedriger aus. Während in Österreich 28 Prozent der Befragten entsprechende Meinungen äußern, sind es in Deutschland »nur« 21 Prozent. Als positives Schlusslicht kann das Vereinigte Königreich mit 17 Prozent gelten – dort freilich war in den vergangenen Jahren ein starker Anstieg judenfeindlicher Einstellungen von 10 auf 17 Prozent zu beobachten.

Anlass genug, die Geschichte des mörderischen politischen Antisemitismus genauer zu betrachten. Vom politischen Antisemitismus im engeren Sinne ist jedoch die bisher nie völlig überwundene judenfeindliche Gestimmtheit der christlichen Kultur zu unterscheiden, die die Entwicklung des Abendlandes begleitet hat.

Tatsächlich berichten die Quellen – sieht man von diskriminierenden einzelnen Maßnahmen der Kirchen ab – für die ersten 1.000 Jahre des christlichen Abendlandes so gut wie nichts von gewaltsamen judenfeindlichen Ausschreitungen oder einschränkenden institutionellen Praktiken. Später tobte sich der europäische Judenhass in zwei großen, Jahrhunderte währenden Zyklen aus. Der erste Zyklus begann mit den Kreuzzügen im 11. Jahrhundert und erstreckte sich bis zur Vertreibung der Juden aus den deutschen Reichsstädten im 14. Jahrhundert – manche Historiker lassen ihn erst mit der Vertreibung der Juden aus Spanien Ende des 15. Jahrhunderts enden. Der zweite Zyklus setzte Mitte des 19. Jahrhunderts ein und endete – nach der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden – am 8. Mai 1945.

Börse Beide Zeiträume waren durch krisenhaft wirkende Innovationen im Bereich der Ökonomie und der Geldwirtschaft gekennzeichnet: zunächst die Entfaltung des Handels- und Kaufmannskapitals sowie des auf Zinsen basierenden Kreditwesens im hohen und späten Mittelalter, dann die Durchsetzung des Kapitalverhältnisses in allen Lebensbereichen im Zuge der Industrialisierung – einschließlich der an der Börse sichtbar gewordenen autonomen Geldwirtschaft.

Die christliche Tradition stellte zur ideologischen Bemäntelung dieser Krisen das Motiv des Judas Iskarioth bereit, der nach den Evangelien Jesus um 30 Silberlinge verriet. Verbunden mit der erzwungenen Delegation von Geldgeschäften an Juden – Christen durften von Christen keine Zinsen nehmen –, entstand so das Motiv des hassenswerten jüdischen Wucherers. Im Schatten dieses Bildes konnten sich dann die Kapitale der Lombarden, der Fugger und anderer großer Kaufmannshäuser umso ungestörter entfalten. Der Rassismus tat später sein Übriges.

Heute kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich das globalisierte Kapitalverhältnis – nach Kaufmannskapital, Zinsproblematik, industriellem Kapitalverhältnis, nach der schon in den 30er-Jahren sichtbar werdenden relativen Autonomie des Finanzkapitals – mit Staatsverschuldung und digitalisierter Derivatwirtschaft am Anfang eines neuen Krisenzyklus befindet.

Judenhass aber äußert sich heute vor allem – verglichen mit dem Unrecht auf der Welt im Ganzen – in übermäßiger Kritik an der Politik israelischer Regierungen. Zu fragen ist daher, ob sich das bisher meist mit ökonomischen Krisen in Verbindung stehende antisemitische Ressentiment von seinem Anlass abgekoppelt hat und sich projektiv auf etwas bezieht, was geradezu das Gegenteil »beweglicher« Geldwirtschaft ist – nämlich die handgreifliche Besitznahme von etwas sehr Konkretem, von Land, kurz, die Besiedlung des Westjordanlandes durch jüdische Israelis. Oder – auszuschließen ist das nicht – sollten Gesellschaften doch etwas gelernt haben: nämlich, dass Kapital Kapital, Geld Geld und Juden Juden sind und dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat?

Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft und Publizist.

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