Justiz

Späte Aufklärung

Früheres deutsches Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Foto: dpa

Im Frühjahr 2016 beginnen voraussichtlich gleich vier neue Auschwitz-Prozesse in Deutschland. Während die Öffentlichkeit auf jedes Gerichtsverfahren mit einer Mischung aus engagiertem Appell gegen das Vergessen und stiller Hoffnung, es möge nun endlich der letzte Prozess dieser Art sein, reagierte, hat sich in der Strafverfolgung im Nachhall des Prozesses gegen John Demjanjuk 2011 doch noch einmal etwas bewegt, was lange als abgelegter Aktenvorgang gegolten hatte: Gegen vier Menschen, die in KZ tätig waren, wird nun Anklage wegen Beihilfe zum Mord erhoben.

detmold Der erste Prozess beginnt am 11. Februar gegen den 94-jährigen Reinhold H. vor dem Landgericht Detmold. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Ostwestfalen vor, an der Ermordung von mindestens 17.000 Menschen beteiligt gewesen zu sein. Nachdem er sich als 18-Jähriger freiwillig zur SS gemeldet hatte, diente H. ab 1942 in Auschwitz als Teil der SS-Wachmannschaft »Totenkopf-Sturmbann«.

Die Ermittler vermuten, dass der Angeklagte nicht nur im Stammlager, sondern auch in Birkenau, dem Ort der Rampe und der Gaskammern, im Einsatz war. In seinen 28 Monaten in Auschwitz wurde H. zudem zweimal befördert, war am Ende Unterscharführer. Das gibt der Angeklagte zu, eine Beteiligung am systematischen Morden bestreitet der 94-Jährige jedoch.

Ähnlich wie im vergangenen Jahr in Lüneburg erlaubt die Rechtsprechung allerdings, die nachgewiesene Beteiligung am System des Holocaust als Beihilfe zum Mord auszulegen. Eine Möglichkeit, um die sich die deutsche Gerichtsbarkeit jahrzehntelang gedrückt hatte.

Erst besagtes Demjanjuk-Verfahren und zuletzt der Lüneburger Prozess gegen Oskar Gröning verzichteten auf die Forderung nach einem konkreten Tatnachweis, wie er vordem oft gefordert worden war. Es gilt jetzt die Erkenntnis, dass, wer in einem KZ tätig war, geholfen hat, die Mordmaschine am Laufen zu halten.

Was jedoch immer wiederkehrt, ist die Diskussion, ob die Angeklagten nicht zu alt, zu schwach oder gar zu unbedeutend gewesen seien. Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, betont hingegen die Relevanz: »Die Überlebenden haben auf diese Prozesse sehr lange gewartet. Sie sind angesichts der minimalen Anzahl von Verfahren gegen SS-Mitglieder auch eine Erinnerung an das Versagen des deutschen Justiz.«

Hubert Z. wird sich seiner Verantwortung ab Ende Februar vor dem Landgericht Neubrandenburg stellen müssen. Auch er meldete sich als 19-Jähriger freiwillig zur Waffen-SS, wurde nach seinem Fronteinsatz im Oktober 1943 nach Auschwitz abkommandiert, wo er als Sanitäter arbeitete. Die Sanitäter waren nicht nur bei der Selektion durch die Lagerärzte beteiligt, einige von ihnen waren auch für die Anwendung von Zyklon B in den Gaskammern verantwortlich.

Nachgewiesen ist die Anwesenheit von Z. in Birkenau im Sommer 1944; in dieser Zeitspanne von knapp zwei Monaten wird ihm die Beteiligung an 3681 Ermordungen vorgeworfen. Er habe dort nur »für Ordnung und Sauberkeit« gesorgt, sagte nach 1945 aus, vom Massenmord habe er erst nach dem Krieg aus Zeitungen erfahren. Wie auch Reinhold H. weist der 95-jährige Z. jede Schuld von sich.

In beiden Fällen hatten die Verteidiger versucht, auf Verhandlungsunfähigkeit ihrer Mandanten zu plädieren, waren jedoch von den Gerichten abgewiesen worden. Die Verhandlungstage werden verkürzt und mit Pausen abgehalten, wie es auch im Lüneburger Prozess, der mit der Verurteilung Grönings endete, der Fall war.

befangenheit Allerdings reichte der Schweriner Oberstaatsanwalt Hans Förster im Fall Hubert Z. in einer ungewöhnlichen Maßnahme einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter ein, dem sich auch Nebenklagevertreter Cornelius Nestler anschloss: Der Eindruck sei entstanden, das Gericht wolle das Verfahren so schnell wie möglich einstellen. Das zeige sich an der fehlenden Zulassung von Nebenklägern und der Weigerung des Gerichtes, selbst Beweismittel hinzuzuziehen. Das Landgericht Neubrandenburg prüft den Antrag, wollte aber keine weitere Stellung nehmen. Diese Vorgänge nennt Christoph Heubner »äußerst bedenklich«. Die Verfahren seien schließlich neben einer Erzählung aus der Vergangenheit stets auch ein Spiegelbild aktueller deutscher Befindlichkeiten.

Zwei weitere Gerichtsverfahren stehen kurz vor der Aufnahme in den kommenden Wochen. In Hanau muss sich der 93-jährige ehemalige SS-Wachmann Ernst T. wegen Beihilfe zum Mord verantworten. In Kiel könnte es für die 91-jährige Helma M. zum Prozess kommen. Sie hatte in Auschwitz als Funkerin der Kommandantur gearbeitet. Beide Anklagen müssten aufgrund des Alters zur Tatzeit vor der Jugendkammer verhandelt werden.

Hanau/Frankfurt am Main

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