NS-Täter

Schoa vor Gericht

Der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 gilt als Meilenstein der israelischen Geschichte: Erst mit ihm habe die israelische Gesellschaft begonnen, sich mit der verdrängten Vergangenheit der Schoa auseinanderzusetzen. Historiker jedoch stellten fast, dass die Beschäftigung mit dem Holocaust nicht nur inner- halb der Familien, sondern auch in der öffentlichen Diskussion bereits vor dem Prozess stark präsent war.

alibi Zum Meilenstein des kollektiven israelischen Geschichtsbewusstseins ist das Gerichtsverfahren aber noch aus einem ganz anderen Grund geworden: Es trug entscheidend dazu bei, dass der Holocaust neben der biblischen Verheißung zur Raison d’être des jüdischen Staates werden konnte, zum ultimativen Alibi für alle Verfehlungen der israelischen Politik, einschließlich der seit 1967 praktizierten Besatzungspolitik.

David Ben Gurion hatte zum einen wohl beabsichtigt, mithilfe des Prozesses den Staat Israel als einzige Antwort auf die »Endlösung« erscheinen zu lassen. Zum anderen sollte das Land weltweit als Alleinvertreter der Opfer im kollektiven Bewusstsein verankert werden. Gleichzeitig versuchte man, die Rolle der zionistischen Führung in Palästina zur Zeit des Holocausts in positivem Licht erscheinen zu lassen.

eigendynamik Aber wie so oft in der Geschichte gab es auch in diesem Fall eine Art Eigendynamik, deren Folgen die Erwartungen Ben Gurions übertrafen: Die Schoa wurde durch die Anklage gegen Eichmann zum A und O der politischen Argumentation Israels – auch, wenn es um den Konflikt mit Arabern beziehungsweise Palästinensern ging. Der Holocaust und die arabische Haltung gegenüber Israel konnten als zwei aufeinanderfolgende Kapitel in der Geschichte eines ewigen Antisemitismus ausgelegt werden.

Kein Wunder, dass seit dem Prozess die Rolle des Jerusalemer Muftis im Zweiten Weltkrieg aufgewertet wurde und der Beobachter des hiesigen Schoa-Diskurses inzwischen den Eindruck gewinnen mag, der Judenmord sei ein gemeinsames deutsch-arabisches Unternehmen gewesen.

kontinuitäten Für Ben Gurion war allerdings auch wichtig, dass während des Prozesses die Vorstellungen von einem »anderen Deutschland« nicht ins Wanken gerieten. Dass Adenauers Nachkriegs-Bundesrepublik nicht einmal am Rande des Prozesses thematisiert wurde, hatte nachhaltige Wirkung: Trotz allem, was wir gerade über personelle Kontinuitäten im Deutschland der 50er-Jahre wissen, konnte sich das gewünschte Bild des »anderen Deutschland« in der israelischen Gesellschaft verbreiten und durchsetzen, lange bevor die Achtundsechziger tatsächlich einen Wandel erreichten. Deren Werk wurde dann in den 90er-Jahren wieder aufgenommen.

Mehr noch: Es war nur eine Frage der Zeit, bis Polen im Rückblick von vielen Israelis zunehmend als Mitverursacher der Schoa betrachtet wurde. 28 Prozent der Israelis, so eine repräsentative Umfrage, meinen heute, »die Polen« trügen für die Ermordung der Juden die gleiche Verantwortung wie »die Deutschen«; nur 17 Prozent halten sie für Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands.

archive Der Eichmann-Prozess hat zudem dazu beigetragen, dass die Frage nach der Rolle Israels bei der Verfolgung der NS-Täter verdrängt wurde: Als hätte allein der jüdische Staat durch das Verfahren die Rechnung mit der NS-Judenpolitik ein für alle Mal und grundsätzlich beglichen.

Solange die Archive der israelischen Geheimdienste verschlossen bleiben, wissen wir zum Beispiel nicht, ob Israelis an Racheakten gegen Nationalsozialisten beteiligt waren. Doch eines ist klar. Zu viele am Judenmord beteiligte Deutsche konnten unbehelligt ein hohes Alter erreichen. Und sogar im Falle Eichmanns war es eher die Hartnäckigkeit des in Deutschland lebenden Staatsanwalts Fritz Bauer als die Zielstrebigkeit Israels, die zur Festnahme Eichmanns geführt hatte.

Als es in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren noch möglich gewesen wäre, Täter vor Gericht zu bringen, hat sich Israel kaum dafür eingesetzt. In der Öffentlichkeit spielten der Auschwitz-Prozess, der Majdanek-Prozess und die Arbeit der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen nur eine marginale Rolle. Man hatte ein Alibi – den Eichmann Prozess. Das Verfahren gegen Eichmann half übrigens auch dabei, Spannungen in der israelischen Gesellschaft zu überwinden. Es machte die Schoa zur Kollektiverfahrung aller dort lebenden Menschen, gleichgültig, ob sie europäischer oder nichteuropäischer Herkunft waren.

Der Autor ist Professor für Deutsche Geschichte an der Hebrew University Jerusalem.

Meinung

Wahlen in Ostdeutschland: Es gibt keine Zeit zu verlieren

In Mecklenburg-Vorpommer und Sachsen-Anhalt wird im September gewählt. Es steht viel auf dem Spiel: Eine AfD-Regierung könnte großen Schaden anrichten. Leidtragende wären nicht zuletzt die jüdischen Gemeinden

von Joshua Schultheis  10.11.2025

Medien

So erzeugt man einen gefährlichen Spin

Wie das Medienunternehmen »Correctiv« den Versuch unternimmt, die Arbeit des israelischen Psychologen Ahmad Mansour fragwürdig erscheinen zu lassen

von Susanne Schröter  10.11.2025 Aktualisiert

Würzburg

Zentralrat der Juden fordert mehr Zivilcourage gegen Hass

Beim Gedenken an die Novemberpogrome in Würzburg hat Juden Schuster die grassierende Gleichgültigkeit gegen Judenhass kritisiert

 10.11.2025

Gedenken

Bundespräsident Steinmeier fordert Widerstand gegen Rechtsextreme

Die Demokratie sieht der Bundespräsident so bedroht wie nie seit der Wiedervereinigung. Das Staatsoberhaupt erklärt, was nun aus seiner Sicht passieren muss

von Martina Herzog  10.11.2025

Raubkunst

Zukunft der Bührle-Sammlung ungewiss

Die Stiftung Sammlung E. G. Bührle hat ihren Stiftungszweck angepasst und streicht die Stadt Zürich daraus

von Nicole Dreyfus  10.11.2025

Wien

Österreichs Regierung mit neuer Strategie gegen Antisemitismus

KI-gestützte Systeme zum Aufspüren von Hate Speech, eine Erklärung für Integrationskurse, vielleicht auch Errichtung eines Holocaust-Museums: Mit 49 Maßnahmen bis zum Jahr 2030 will Wien gegen Antisemitismus vorgehen

 10.11.2025

Marbach am Neckar

Schillerrede: Soziologin Illouz vergleicht Trump mit »König Lear«

Statt Selbstbeweihräucherung empfiehlt die Soziologin Eva Illouz in der Schillerrede 2025 den Zweifel und das Zuhören - nur das helfe aus der eigenen Echokammer heraus

 10.11.2025

Berlin

»Besetzung gegen Antisemitismus« an TU Berlin

Nach pro-palästinensischen Universitätsbesetzungen in der Vergangenheit haben nun Studierende ein Gebäude an der TU Berlin besetzt, um gegen Antisemitismus zu protestieren. Sie machen dem Allgemeinen Studierendenausschuss Vorwürfe

 10.11.2025

Antisemitismus

Rabbinatsstudent am Berliner Hauptbahnhof beschimpft

Der angehende Rabbiner aus Deutschland war am 9. November auf dem Weg zu einer Gedenkveranstaltung für die Novemberpogrome. Sein Urgroßvater hat die Schoa überlebt

 10.11.2025