Standpunkt

Schaut nicht weg!

Verzweifelte Lage: Flüchtlinge im überfüllten Boot auf dem Mittelmeer Foto: dpa

Es gibt Erinnerungen im Leben, die im Laufe der Jahrzehnte stetig schwächer werden, ab einem bestimmten Punkt nur noch dann und wann aufflackern und schließlich ganz verschwinden. Und es gibt Erinnerungen, die niemals verblassen. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gehört in meiner Biografie zweifellos zur zweiten Kategorie.

Als sei es gestern gewesen, erinnere ich mich daran, wie in meiner Heimatstadt Berlin die Synagoge in der Fasanenstraße brannte, wie die Nazis das Geschäft meiner Eltern am Ku’damm verwüsteten und wie sie meinen Vater ins Konzentrationslager Buchenwald abtransportierten.

Dieses Gefühl der Angst und Ausweglosigkeit habe ich als jüdischer Jugendlicher ständig gespürt. Die Bedrohung war allgegenwärtig: Wir sahen die Fahnen und das Marschieren der Nazis, hörten die Pöbeleien und Beschimpfungen gegen Juden, das Brüllen und Gegröle von Kampfliedern. Verzweifelt suchten meine Eltern nach Auswegen aus der Falle. Doch wir saßen fest. 1938 gab es weltweit fast keinen einzigen Staat, der uns jüdische Flüchtlinge aufnehmen wollte.

shanghai An einem düsteren Abend im April 1939, buchstäblich in letzter Sekunde, gelang meinen Eltern und mir per Schiff die Flucht nach Shanghai. Die Stadt am Ostchinesischen Meer bedeutete unsere Rettung. Ich ließ mein altes Leben hinter mir und begann in Asien ein neues – wenn auch sehr schweres. Dankbar jedoch, dort aufgenommen worden zu sein.

Wenn ich nun dieser Tage die Nachrichten lese, sehe und höre, denke ich oft an jene Zeit zurück. Immer wieder treibt die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa Tausende verzweifelter Menschen aus krisengeschüttelten Ländern auf gnadenlos überfüllte Boote – viele von ihnen sterben bei der gefährlichen Überfahrt. In ihrer Not nehmen sie den lebensbedrohlichen Weg über das Mittelmeer in Kauf. Ich schaue in die Gesichter dieser Menschen und erkenne mich in ihnen wieder. Denn ich weiß, was es bedeutet, Tyrannei und Hunger entkommen zu müssen, während kein Land Einlass gewährt.

Angesichts der verheerenden Flüchtlingskatastrophe sucht Europa jetzt verstärkt nach Antworten. Doch viel zu lange hat der Westen unbequeme Wahrheiten verschwiegen und nicht ernsthaft nach Antworten auf den immer größer werdenden Ansturm aus den Krisengebieten der benachbarten Kontinente gesucht. Statt den Hilfe suchenden Menschen mit Empathie und Sympathie zu begegnen, wurden die Kontrollen an den Grenzen verstärkt und die Bootsflüchtlinge rasch wieder in ihre Heimatländer zurückgebracht.

gesamtplan
Es steht außer Frage: Europa kann nicht alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen. Jahr für Jahr glauben immer mehr Menschen, dass auf der anderen Seite des Wassers das bessere Leben wartet. Umso wichtiger ist es, dass die EU und die Bundesrepublik die Mittel für die betroffenen Staaten genügend erhöht. Wir brauchen einen Gesamtplan, um dem Druck der Flüchtlinge entgegenzuwirken. Wirtschaftliche, medizinische und technische Hilfe muss ein zentraler Teil davon sein, nur dann werden weniger Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen.

Doch mit Geld allein ist es nicht getan. Die EU sollte mehr Bereitschaft zeigen, Flüchtlinge dauerhaft aufzunehmen. Was wir brauchen, sind Kriterien und EU-Regeln, aus welchen Ländern Flüchtlinge aufgenommen und wie sie auf die EU-Staaten verteilt werden. Wir haben eine unausweichliche moralische Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen – auch und gerade, weil wir von der Überlegenheit unserer westlichen Werte überzeugt sind.

seenotrettung
Der Beschluss der Europäischen Union, nach den jüngsten Katastrophen mit bis zu 1000 Toten die Mittel für die Seenotrettung zu erhöhen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Positiv stimmt mich auch, dass die EU-Mitgliedsstaaten darüber beraten, mehr Flüchtlinge dauerhaft aufzunehmen. Doch noch viel zu häufig mischen sich auch heute Ressentiments gegen alles Fremde in die Diskussion.

Gerade in diesen Tagen, in denen wir der Befreiung der Konzentrationslager Bergen-Belsen und Dachau sowie der Millionen Holocaustopfer gedenken, dürfen wir das gegenwärtige Leid nicht aus dem Blick verlieren. Bei einer Gedenkveranstaltung Humanität und Solidarität anzumahnen, zugleich aber das Massensterben von Menschen im Mittelmeer hinzunehmen, würde mich befremden.

Ein würdiges Gedenken erinnert an all jene, denen anders als mir die Flucht aus Nazi-Deutschland nicht möglich war – und setzt sich gleichzeitig verstärkt für ein Ende des Wegsehens von den Tragödien an Europas Grenzen ein.

Der Autor ist Gründungsdirektor des Jüdischen Museums Berlin und früherer US-Finanzminister.

Judenhass

Charlotte Knobloch warnt: Zukunft jüdischen Lebens ungewiss

Die Hintergründe

 16.11.2025

Extremismus

Beobachtungsstelle: Tausende christenfeindliche Straftaten in Europa

Europa gilt immer noch als christlicher Kontinent. Doch Experten warnen: Christen sind von einem Klima wachsender Intoleranz bedroht. Auch in Deutschland muss die Lage Besorgnis erregen

 16.11.2025

Deutschland

Auktion von Besitztümern von NS-Opfern abgesagt

Im Online-Katalog waren unter anderem Dokumente und Post von NS-Verfolgten aus Konzentrationslagern sowie Täterpost zu finden

 16.11.2025 Aktualisiert

Meinung

Mit Martin Hikel geht einer, der Tacheles redet

Der Neuköllner Bürgermeister will nicht erneut antreten, nachdem ihm die Parteilinke die Unterstützung entzogen hat. Eine fatale Nachricht für alle, die sich gegen Islamismus und Antisemitismus im Bezirk einsetzen

von Joshua Schultheis  16.11.2025

Berlin

Merz verspricht Schutz jüdischen Lebens in Deutschland

Bei der diesjährigen Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz im Jüdischen Museum Berlin an Amy Gutmann und David Zajfman gab Bundeskanzler Friedrich Merz ein klares Versprechen ab

 16.11.2025

Meinung

Die Ukrainer brauchen unsere Hilfe

Die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten in Deutschland nimmt ab. Aus einer jüdischen Perspektive bleibt es jedoch wichtig, auch weiterhin nicht von ihrer Seite abzuweichen

von Rabbinerin Rebecca Blady  16.11.2025

Berlin

Angriff auf Leiter deutsch-arabischer Schule in Neukölln

Al-Mashhadani gilt als Kritiker islamistischer Netzwerke und setzt sich für einen arabisch-israelischen Austausch ein

 15.11.2025

Debatte

»Hitler hatte eine unentdeckte genetische sexuelle Störung«

Eine neue britische Dokumentation über Adolf Hitler sorgt für Diskussionen: Kann die Analyse seiner DNA Aufschluss über die Persönlichkeit des Massenmörders geben?

 15.11.2025

Deutschland

Auschwitz-Komitee: Geplante Auktion ist schamlos 

Ein Neusser Auktionshaus will einen »Judenstern« und Briefe von KZ-Häftlingen und deren Angehörigen versteigern. Das internationale Auschwitz-Komitee reagiert

 15.11.2025