Nach dem Chaos bei der »Querdenken«-Demo in Leipzig verschärft Sachsen die Regeln für Versammlungen. Die Zahl der Teilnehmer solle künftig auf 1000 begrenzt werden. Im Ausnahmefall sollen auch größere Kundgebungen möglich sein, wenn »technische und organisatorische Maßnahmen« getroffen werden, um das Infektionsrisiko zu senken, sagte Innenminister Roland Wöller (CDU) am Dienstag.
Das Land wird seine Corona-Schutzverordnung ab Freitag entsprechend anpassen. Auch in anderen Bundesländern werden Verschärfungen diskutiert. Unterdessen gibt es weiter heftige Kritik an den vielen Tausend Teilnehmern der Demo am Samstag in Leipzig – darunter Hooligans und Rechtsextremisten –, die mit voller Absicht gegen Hygieneregeln verstoßen haben.
VERSAMMLUNGSRECHT Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kritisierte die Demonstranten scharf. »Rücksichtslosigkeit ist kein Freiheitsrecht«, sagte er am Dienstag in Berlin. »Wo einige Zehntausend Menschen die Auflagen missachten, die Regeln verspotten und weder auf Abstand achten noch Masken tragen, da werden Grenzen überschritten.« Das Versammlungsrecht sei ein hohes Gut, Demonstrationen müssten auch in der Pandemie möglich sein. »Aber die Demonstrationsfreiheit ist nicht die Freiheit zur Gefährdung anderer«, sagte Steinmeier.
Das Sächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) legte am Dienstag die Begründung für seinen umstrittenen Beschluss vor, die Versammlung in der Innenstadt zu erlauben. Die Stadt Leipzig hatte die Demonstration zuvor eigentlich auf einen großen Messe-Parkplatz am Stadtrand verlegen wollen.
GEFAHRENPROGNOSE Laut Begründung sind die Richter auf der Grundlage einer Gefahrenprognose der Polizei von 16.000 Teilnehmern ausgegangen. Für eine solche Menschenmenge sei der Augustusplatz in Leipzig groß genug gewesen, auch unter Wahrung der Corona-Abstandsanforderungen von sechs Quadratmetern pro Person, hieß es.
Tatsächlich hatten sich am Samstag deutlich mehr als 16.000 »Querdenker« in der Innenstadt versammelt. Die Polizei ging von 20.000 Teilnehmern aus. 90 Prozent der Teilnehmer trugen laut Polizei keine Masken, obwohl sie in Sachsen bei Versammlungen derzeit »verpflichtend« vorgeschrieben sind. Die Stadt Leipzig löste die Kundgebung auf.
LEIPZIGER RING Danach erzwangen die Menschen einen Gang über den Leipziger Ring. Die Polizei hatte erst versucht, sie zu stoppen, ließ sie aber schließlich ziehen. An Polizeisperren gab es Rangeleien, es flog Pyrotechnik. Zudem wurden Journalisten attackiert.
Unterdessen warnte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius vor einer Radikalisierung von Corona-Leugnern. »Der Einfluss von Rechtsextremisten auf die Szene und die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen kann nicht wegdiskutiert werden, und er darf nicht unterschätzt werden«, sagte der SPD-Politiker.
Zwar seien nicht alle, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gingen, Neonazis und Rechtsextremisten. Aber sie machten sich immer wieder, ob sie es wollten oder nicht, mit Rechtsextremisten gemein, die mit ihnen Seite an Seite demonstrierten.
EINSTUFUNG Der sächsischen Sicherheitsbehörden stuften die »Querdenken«-Demonstration am Dienstag dennoch erneut als überwiegend friedlich ein. »Die Anzahl der gewaltbereiten Handlungen war in einer Anzahl, dass wie in der Gesamteinschätzung von einem friedlichen Verlauf ausgehen können«, sagte Landespolizeipräsident Horst Kretzschmar.
Er bestätigte, dass sich Rechtsextremisten und Hooligans in die Demonstration gemischt hatten. Sie traten besonders in Erscheinung, als die Menschenmassen den nicht gestatteten Gang um den Ring erzwingen wollten. An den Sperren sei die Polizei »zu dieser Zeit unausreichend personell ausgestattet« gewesen, sagte der Landespolizeichef.
Die Ereignisse in Leipzig stellen auch die Regierungskoalition in Sachsen auf eine harte Bewährungsprobe. Grund ist die unterschiedliche Bewertung der Situation durch Grüne und SPD auf der einen Seite und Union auf der anderen Seite. Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) sprach am Dienstag von einer »großen Belastung« der Koalition. Es sei Aufgabe der nächsten Tage, dieses Vertrauen wieder herzustellen«, sagte Wolfram Günther (Grüne), gleichfalls Stellvertreter von Regierungschef Michael Kretschmer (CDU).
SONDERSITZUNG Forderungen nach einem Rücktritt von Innenminister Roland Wöller (CDU) schlossen sich aber weder Dulig noch Günther an. Wöller selbst sagte, er wolle die Rücktrittsforderungen »nicht weiter kommentieren«. Unter anderem hatten die Linken in Sachsen seine Entlassung gefordert. Der Innenminister bekräftigte, dass die Vorgänge um die Großdemo aufgearbeitet werden sollen. Am Donnerstag werden sich Innen- und Rechtsausschuss des Landtags in Dresden in einer Sondersitzung damit befassen. dpa/epd