Krise

Putins Perspektive

»Die heutige Ukraine ist ganz und gar von Russland erschaffen worden«: Wladimir Putin bei seiner Fernsehansprache am Montagabend Foto: picture alliance / Xinhua News Agency

Als »eine in die Vergangenheit umgekippte Politik« haben sie Geschichte betrachtet: So griff der bolschewistische Historiker Michail Pokrowskij 1928 die russische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts an. Obwohl Pokrowskijs Kritik und Abgrenzung der Geschichtsforschung der Zarenzeit galt, beschreibt seine Metapher zutreffend den Umgang mit der Geschichte, der für die Sowjetunion charakteristisch war – und heute in Russland weit verbreitet ist.

Als Paradebeispiel kann dabei die Rede des Kreml-Chefs gelten, der am Montagabend die ganze Welt in Staunen versetzte: Seufzend, ab und an stotternd und wie ein Zar auf dem Thron sitzend, hielt Wladimir Putin ein ausführliches und eher langweiliges Referat über die Geschichte des Nachbarlandes Ukraine und verbreitete dabei seine revisionistischen, von historischen Traumata geprägten, verzerrten Geschichtsbilder. Putin forderte den Westen offen heraus und drohte der Ukraine mit einem großen, blutigen Krieg. Geschichte als Anlass für die militärische Invasion im Europa des 21. Jahrhunderts?

Entwicklungen Während sich der erste russische Präsident Boris Jelzin wenig für Geschichte interessierte, profiliert sich sein Nachfolger Putin als geschichtsbewusster Staatschef, der historische Entwicklungen reflektiert und sogar für das breite Publikum Abhandlungen mit einem wissenschaftlichen Anspruch verfasst. Zu seinen Lieblingsthemen gehören der polnisch-sowjetische Krieg 1919/20, die polnisch-deutschen Beziehungen in den 30er-Jahren, das Münchner Abkommen 1938, der Hitler-Stalin-Pakt 1939 und vor allem die Geschichte der Ukraine.

Die Themenauswahl ist nicht überraschend. Sie spiegelt einerseits die in Russland seit den späten 2000er-Jahren verankerten antiwestlichen und insbesondere antipolnischen Narrative wider und soll andererseits – wie etwa in seinem langen, im Juli 2021 auf der Webseite des Kremls erschienenen und nun in der Fernsehansprache zusammengefassten Artikel – Russlands Anspruch auf die Ukraine historisch untermauern.

Wer von Putin eine ausgewogene und differenzierte Analyse der ambivalenten ukrainischen Geschichte erwartet, wird enttäuscht. Die Erkenntnisse der modernen Geschichtsforschung werden ausgeblendet und historische Ereignisse aus dem Kontext gerissen. Putin knüpft an Mythen aus der russischen und sowjetischen Geschichtsschreibung an, die als »objektive Fakten« gelten. Sein Ukraine-Narrativ ist russlandzentriert und nationalistisch.

Sein Ukraine-Narrativ ist russlandzentriert und nationalistisch.

Die jahrhundertelange russische Herrschaft über die Ukraine wird zum »Goldenen Zeitalter« der ukrainischen Geschichte stilisiert, der ukrainische Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts vernichtend kritisiert. Die heutige Ukraine wird als ein von den Bolschewiken zusammengestricktes Gebilde präsentiert, das sich nunmehr unter fremder (westlicher) Kontrolle befinde und von Russlands Feinden in ein »Anti-Russland« umgewandelt werde. Inzwischen wird sogar von einem »Völkermord« an den Russen beziehungsweise an der russischsprachigen Bevölkerung gesprochen, den Kiew im Donbass betreiben würde.

These Putins Umgang mit der Vergangenheit ist selektiv. So werden die Russifizierung der Ukraine im Zarenreich und in der UdSSR sowie die verheerende Hunger­katastrophe der frühen 30er-Jahre lediglich am Rande und die stalinistischen Säuberungen in der Ukraine überhaupt nicht erwähnt. Putin sucht nach »Fakten« für seine zentrale These, mit der Moskau seine aggressive Ukraine-Politik begründet: Die ostslawischen Völker – Russen, Ukrainer und Belarussen – seien ein Volk und eine Einheit; die Ukraine wie Belarus seien Russlands historische Gebiete, die in der russischen Einflusszone bleiben müssten. Obschon Putin die Einverleibung der Ukraine durch die Russische Föderation nicht offen fordert, spricht er dem demokratischen, westlich orientierten ukrainischen Staat das Existenzrecht ab.

Während Putins revisionistischer Artikel im Sommer 2021 für viele Beobachter eher überraschend kam, lässt er sich nun als ein Teil der antiukrainischen Kampagne erkennen, die zu der aktuellen dramatischen Zuspitzung der Situation führte. Der Artikel flankiert die aktuelle Ukraine-Krise, die tatsächlich – wie Bundesaußenministerin Annalena Baerbock auf der Münchner Sicherheitskonferenz zutreffend bemerkte – eine Russland-Krise ist.

Dem rückwärtsgewandten Autokraten Putin, der das Rad der Geschichte zurückdrehen will, läuft unterdessen die Zeit davon. Vor allem in der Ukraine, aber auch in Belarus und in Russland gibt es schon zahlreiche in der postsowjetischen Zeit sozialisierte Menschen, die mit Putins Geschichtsauffassung wenig anfangen können und diese ablehnen. Putin muss sich also beeilen. Und er will keine Zeit mehr verlieren.

Wie weit aber möchte Wladimir Putin gehen? Während die ganze Welt gebannt auf die Ukraine blickt, veröffentlicht Putins »graue Eminenz«, sein ehemaliger Chefberater Wladislaw Surkow, einen Beitrag, in dem er die heutigen Westgrenzen Russlands mit den Grenzen nach dem mit dem Deutschen Reich geschlossenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk 1918 vergleicht und als einen inakzeptablen Zustand darstellt, der korrigiert werden sollte. Surkow schreibt das, was Putin meint und will. Die Geschichte ist für ihn schließlich eine in die Vergangenheit umgekippte Politik.

Der Autor ist Historiker in Düsseldorf.

Premiere

»Übergriffe gegen uns sind mittlerweile Alltag«

Anfeindungen, Behinderungen, Drohungen und Übergriffe: Ein neuer Film dokumentiert die Pressefeindlichkeit bei vielen Pro-Palästina-Demonstrationen in Berlin. Die Journalisten-Union warnt vor den Folgen für die Pressefreiheit hierzulande

von Markus Geiler  28.10.2025

Stellungnahme

Das sagt das ZDF zur Kritik aus der Union

Der getötete Angestellte der Produktionsfirma Palestine Media Production sei kein ZDF-Mitarbeiter gewesen. Zuvor wurde bekannt, dass er Hamas-Mitglied war

 28.10.2025

Nordwesten

Jüdisches Museum für Hamburg?

Kultursenator Carsten Brosda (SPD) will Lücke in der zweitgrößten deutschen Stadt schließen

 28.10.2025

Faktencheck

Marcel Reich-Ranicki sprach nie von »Schuldkult als Dauerimpfung«

Wie der gestorbene Literaturkritiker für aktuelle Polit-Debatten auf Social Media genutzt wird – und wie seine echten Aussagen aus Lebzeiten tatsächlich klingen

 28.10.2025

New Yorker Bürgermeisterwahlen

Zohran Mamdanis Vorsprung schrumpft

Viele Wähler unterstützen den früheren Gouverneur Andrew Cuomo nicht, weil sie ihn lieben, sondern da sie einen Sieg des Israelhassers Mamdani verhindern wollen. Wird dies klappen?

 28.10.2025

Berlin

Union: ZDF muss über Hamas-Mitglied bei Produktionsfirma aufklären

Politiker von CDU und CSU, darunter Ottilie Klein, kritisieren das ZDF scharf, nachdem bekannt wurde, dass ein vom Sender beschäftigter Mann in Gaza Mitglied der Terrorgruppe war

 28.10.2025

Kommentar

Politisches Versagen: Der Israelhasser Benjamin Idriz soll den Thomas-Dehler-Preis erhalten

Wer wie der Imam den 7. Oktober für seine Diffamierung des jüdischen Staates und der jüdischen Gemeinschaft instrumentalisiert, ist eines Preises unwürdig

von Saba Farzan  28.10.2025

München

Europäische Rabbiner sagen Baku-Konferenz aus Sicherheitsgründen ab

Rund 600 Teilnehmer aus aller Welt sind angemeldet. Viel Geld war in die Vorbereitung geflossen

von Imanuel Marcus, Mascha Malburg  28.10.2025 Aktualisiert

Rom

Eklat durch NS-Vergleich bei interreligiösem Kongress

Der Dialog zwischen katholischer Kirche und Judentum ist heikel. Wie schwierig das Gespräch sein kann, wurde jetzt bei einem Kongress in Rom schlagartig deutlich. Jüdische Vertreter sprachen von einem Tiefpunkt

von Ludwig Ring-Eifel  27.10.2025