Interview

»Putin hat sich verzockt«

Lettlands Präsident Egils Levits über den Krieg gegen die Ukraine und den Umgang Europas mit Putin

von Michael Thaidigsmann, Philipp Peyman Engel  03.03.2022 16:35 Uhr Aktualisiert

»Wir sind stärker«: Lettlands Präsident Egils Levits Foto: imago images/Chris Emil Janßen

Lettlands Präsident Egils Levits über den Krieg gegen die Ukraine und den Umgang Europas mit Putin

von Michael Thaidigsmann, Philipp Peyman Engel  03.03.2022 16:35 Uhr Aktualisiert

Herr Präsident, stehen Sie aktuell in Kontakt mit Ihrem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj?
Wir hatten eigentlich vereinbart, uns am letzten Wochenende in Odessa zu treffen. Aber weil die Stadt unter russischem Beschuss steht, mussten wir das verschieben.

Welchen Eindruck macht er auf Sie bei seinen Videoansprachen an sein Volk?
Er macht auf mich einen sehr positiven Eindruck. Er ist ein kluger Politiker und ausgezeichneter Kommunikator, was gerade in dieser Situation gefragt ist. Er ist heute der unumstrittene Anführer der ukrainischen Nation.

Sie haben beide jüdische Eltern. Ist das bei Ihren Gesprächen einmal Thema gewesen?
Wir sind mittlerweile ganz gute Freunde. Unsere jüdischen Familien waren aber bisher allenfalls am Rande ein Thema.

Bis vor wenigen Tagen hieß es, Wladimir Putin drohe nur, werde am Ende aber keinen Angriffsbefehl geben. Es kam anders. Haben Sie Angst, dass er womöglich auch Lettland angreifen könnte?
Ich glaube, so verrückt ist er dann doch nicht. Denn für Russland wären die Konsequenzen eines solchen Schritts absolut verheerend. Als NATO-Mitglied ist Lettland sicher. Nach dem NATO-Vertrag ist ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat automatisch ein Angriff auf das gesamte Bündnis – mit allen Konsequenzen, die das nach sich zieht.

Hat Putin sich verzockt?
Ja. Er wollte einen raschen Krieg führen, den schnellen Sieg erzwingen, und hat dann zwei böse Überraschungen erlebt. Zum einen war da die Widerstandskraft der Ukrainer. Zum anderen hat der Westen ungewohnte Entschlossenheit gezeigt und sich auf die Seite der Ukraine gestellt – in einem Ausmaß, mit dem Putin nicht gerechnet hatte. Jetzt versucht er, den Krieg weiter zu eskalieren, greift die Zivilbevölkerung in Kiew und anderen Städten an. Aber das läuft nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Eigentlich hat Putin schon verloren.

Was ist der Grund für diesen Krieg?
Putin will das Imperium in den Grenzen der früheren Sowjetunion wiederherstellen. Er richtet den Blick sogar darüber hinaus. Das kann Europa, das kann die freie Welt nicht hinnehmen. Putins Angriff auf die europäische Friedensordnung wird nicht gelingen.

Ist er ein Kriegsverbrecher? Sollte vor dem Internationalen Strafgerichtshof ein Verfahren gegen Putin eröffnet werden?
Das muss der Chefankläger des Strafgerichtshofs, Karim Ahmad Khan, entscheiden. Er hat jetzt Vorermittlungen eingeleitet. Unabhängig davon habe ich am Sonntag beschlossen, dass Lettland der Klage der Ukraine gegen Russland vor dem Internationalen Gerichtshof beitreten wird.

Als Vorwand für den Krieg wird von Putin eine angeblich notwendige »Entnazifizierung« der Ukraine angeführt. Ihr Vater war selbst Jude, Sie und Ihre Familie wurden 1972 vom KGB aus der Sowjetunion ausgewiesen. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie aus dem Kreml solche Töne hören?
Diese Propaganda sind wir seit mehr als 30 Jahren gewohnt. Wir schenken ihr keine Aufmerksamkeit mehr. Das sind Lügen, die aus innenpolitischen Gründen eingesetzt werden, um den Hass gegen den Westen zu schüren. Alles, was Russland nicht gefällt, wird gerne als »nazistisch« beschrieben.

Glaubt die russische Bevölkerung diesen Lügen?
Ein Teil der Gesellschaft, ja. Russland ist ein autokratischer Staat, in dem die Presse- und Meinungsfreiheit unterdrückt wird. Anstelle von Meinungsvielfalt gibt es dort fast nur die offizielle Regierungspropaganda zu hören und zu lesen.

Wird die politische Kehrtwende Deutschlands und der EU im Hinblick auf Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Russland den Ausgang dieses Krieges beeinflussen?
Der Widerstand gegen den Aggressor ist in der Ukraine sehr stark. Die Menschen dort sind hoch motiviert, ihr Heimatland zu verteidigen. Natürlich stärkt die Unterstützung durch die EU und durch die westlichen Staaten insgesamt diesen Widerstand zusätzlich. Hinzu kommt: Der Westen ist Russland um ein Vielfaches überlegen: militärisch, wirtschaftlich, politisch.

Es werden in den nächsten Wochen womöglich Millionen Flüchtlinge in EU-Länder kommen. Sind sie darauf vorbereitet?
Es gibt jetzt schon Hunderttausende Flüchtlinge. Solange die Lage in der Ukraine nicht besser wird, müssen wir diese Menschen willkommen heißen und bei uns aufnehmen. Überwiegend wird das in angrenzenden Staaten wie Polen und Rumänien passieren. Auch Lettland ist dazu bereit.

In Deutschland galt bislang die Doktrin, man dürfe aufgrund der eigenen Geschichte keine Waffen in Kriegsgebiete liefern. Damit hat die Bundesregierung nun gebrochen. Zu Recht?
Ja. Bundeskanzler Olaf Scholz hat von einer »Zeitenwende« gesprochen. Das trifft es sehr gut, denn die Zeiten haben sich wirklich grundlegend verändert. Auch unser Verhalten, unsere Politik muss sich dementsprechend ändern. Wir müssen endlich der Wirklichkeit Rechnung tragen. Das betrifft im Übrigen nicht nur Deutschland, sondern auch die anderen europäischen Staaten.

Glauben Sie, der Umgang Europas mit anderen Aggressoren wie Iran oder China wird sich künftig ändern?
Ich glaube, es findet da gerade ein Bewusstseinswandel statt. Die bisherige Annahme, mit guten Worten könne doch alles geregelt werden, ist nun widerlegt worden. Diplomatie muss durch militärische, wirtschaftliche und politische Stärke unterfüttert sein. Worte allein machen auf Autokraten wenig Eindruck. Der Westen ist aber stärker als jedes autokratische Regime auf dieser Welt.

Sollte die Ukraine in die Europäische Union aufgenommen werden?
Ich habe diesen Vorschlag bereits gemacht, einige andere Staatschefs in der EU haben sich dem angeschlossen. Die Ukraine ist ein europäisches Land. Wir sollten ihr schnell den Kandidatenstatus verleihen. Das wäre ein wichtiges Signal. Wir dürfen nicht vergessen: Wir EU-Bürger bezahlen in dieser Krise mit Euro und Dollar, die Ukrainer bezahlen mit Menschenleben.

Mit dem Staatspräsidenten der Republik Lettland sprachen Philipp Peyman Engel und Michael Thaidigsmann.

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