Geschichtspolitik

Opfer der Propaganda

In Israel konnte sich der »Tag des Sieges« etablieren: Parade von Weltkriegsveteranen aus der ehemaligen Sowjetunion in Jerusalem am 9. Mai 2017 Foto: FLASH 90

Am 9. Mai wird Wladimir Putin seinen Sieg über die Ukraine verkünden, vielleicht sogar das Ende seiner »Spezialoperation«, die in Russland nicht als Krieg bezeichnet werden darf: Diese Prognosen verbreiteten sich vor Beginn der »Schlacht um den Donbass« im April. Aber die Ukrainer verteidigen sich tapfer, und so stockt der russische Vormarsch.

Beachtliche militärische Erfolge kann der Kreml bisher nicht vorweisen.
Was geschieht aber dann am »Tag des Sieges« bei der pompösen, schon im Vorfeld propagandistisch ausgeschlachteten Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau? Was werden wir an diesem Tag von Putin hören? Manche britische und amerikanische Experten, die vor allem die russische Propaganda analysieren, rechnen nunmehr besorgt mit der Verkündung einer Generalmobilmachung; sogar eine direkte Kriegserklärung an die NATO sei nicht mehr ausgeschlossen.

Etwa 500.000 Juden haben im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft.

Das sind gewiss Spekulationen, die allerdings angesichts der bisherigen Eskalation des Konflikts keinesfalls überraschen würden. Eine Sache steht jedoch bereits vor dem »Tag des Sieges« fest: Der Zweite Weltkrieg und der 77. Jahrestag des Sieges werden 2022 von Moskau gezielt genutzt, um den verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen, Hetze gegen den Westen zu verbreiten und sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen.

Mehr noch: Der aktuelle Krieg gegen »ukrainische Neonazis« und ihre »westlichen Mentoren« wird zu einer Fortsetzung des »Großen Vaterländischen Krieges« der Sowjetunion gegen Nazideutschland stilisiert. Gerade diese erschreckenden Umstände werfen die Frage auf, wie man heute und künftig mit dem »Tag des Sieges« umgehen soll – auch und vor allem aus jüdischer Perspektive.

BEITRAG Die Sowjetunion und ihre Rote Armee haben einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über Nazideutschland geleistet und somit letztendlich die von Hitler und seinen Komplizen angedachte Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung in Europa verhindert. Etwa 500.000 jüdische Menschen haben in der Roten Armee gekämpft. Bis zu 200.000 von ihnen verloren im Krieg ihr Leben. Sowjetische Soldaten haben mehrere nationalsozialistische Vernichtungslager be-
freit, darunter auch Auschwitz, das zu Recht als Symbol der NS-Gräueltaten gilt.

In der UdSSR in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre zum identitätsstiftenden zentralen Feiertag aufgestiegen, wurde der »Tag des Sieges« von jüdischen Kriegsveteranen und ihren Nachkommen sowie von sowjetischen Holocaust-Überlebenden gefeiert. Der 9. Mai war für sie – nicht zuletzt aufgrund ihrer jüdischen Herkunft und der Tragödie der Schoa – besonders wichtig. So gingen etliche Jüdinnen und Juden in der belarussischen Hauptstadt Minsk ab den späten 70er-Jahren am 9. Mai zum 1947 errichteten Holocaust-Denkmal auf dem Gelände des ehemaligen Minsker Ghettos, um dort der jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken.

Als zentrale Figuren dieser Gedenkveranstaltungen fungierten Kriegsveteranen wie die sowjetischen Offiziere Lew Owsischtscher, Naum Alschanskij und Efim Dawidowitsch, die nach Israel auswandern wollten und aus diesem Grund von sowjetischen Behörden verfolgt wurden.
Das zivilgesellschaftlich organisierte Holocaust-Gedenken am »Tag des Sieges« war den lokalen Machthabern in Minsk ein Dorn im Auge: Es verstieß gegen das offizielle sowjetische, auf die Glorifizierung der Roten Armee fokussierte Kriegsnarrativ und war zudem de facto Protestaktion gegen den in der Sowjetunion omnipräsenten Antisemitismus. So schreckte man nicht davor zurück, jüdische Kundgebungen am 9. Mai zu stören, meistens aber ohne Erfolg.

Wladimir Putins Umgang mit dem »Tag des Sieges« spaltet die jüdische Gemeinschaft.

Während die Schoa im Moskauer Kriegsnarrativ und in der sowjetischen Erinnerungskultur eine marginale Rolle spielte, warfen sowjetische Autoren in ihren anti-israelischen Publikationen auswanderungswilligen jüdischen Menschen vor, die Rolle der Sowjetunion bei der Rettung europäischer Jüdinnen und Juden vergessen zu haben und nunmehr ihre Heimat als »Verräter« verlassen zu wollen. Diese zynische These vertrat etwa der angesehene jüdische Kriegsveteran Generaloberst David Dragunskij, der 1983 vom Kreml an die Spitze des berüchtigten, gegen Israel gerichteten »Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit« gesetzt wurde. Dragunskij hatte den Staat Israel mit dem Impetus eines sowjetischen Kriegshelden und Angehörigen mehrerer Opfer der Schoa verleumdet.

Im Gegensatz zum »Victory in Europe Day« beziehungsweise »Tag der Befreiung« am 8. Mai blieb das sowjetisch-russische, von Josef Stalin bewusst auf den 9. Mai gesetzte Pendant vor dem Zusammenbruch des Ostblocks in Europa wenig beachtet. Der 9. Mai wurde eher als kommunistischer Feiertag wahrgenommen, an dem die sowjetische Führung ihre Armee und ihren Sieg feiern lasse. Vor der »großen Alija« aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten wurde der »Tag des Sieges« in Israel vor allem von Kommunisten und weiteren prosowjetischen Kräften gefeiert.

ANERKENNUNG In den 80er- und vor allem 90er-Jahren brachten die aus der (ehemaligen) UdSSR zugewanderten Menschen den »Tag des Sieges« in die USA, nach Israel – und auch in die Bundesrepublik. Während der 9. Mai in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik ein eher exotischer Feiertag der russischsprachigen Bevölkerung blieb, konnte er sich in Israel tatsächlich etablieren: Seit 2000 offiziell anerkannt, gilt der »Tag des Sieges« vor allem als Tag der Kriegsveteranen, an denen Gedenkveranstaltungen und Aufmärsche stattfinden. Da sich israelische Politiker oft an diesen Veranstaltungen beteiligen, wird die Leistung der Roten Armee in Israel zusätzlich gewürdigt.

In Israel gilt der 9. Mai vor allem als Tag der Weltkriegsveteranen.

Während der »Tag des Sieges« im 20. Jahrhundert trotz seiner offensichtlichen, von Moskau in der Sowjetzeit vorangetriebenen propagandistischen Färbung in vielerlei Hinsicht ein Tag der Rückbesinnung auf die Kriegstragödie blieb und vor allem aus der ehemaligen UdSSR stammende Juden mit dem Holocaust konfrontierte, änderte sich die Situation im 21. Jahrhundert.

Einerseits sind die meisten Kriegsveteranen und zahlreiche Schoa-Überlebende verstorben, für die dieser Feiertag eine besondere Bedeutung hatte. Andererseits setzte die Russische Föderation unter Putin auf diesen Feiertag, um ihre offen revanchistische, neoimperialistische und antiwestliche Agenda zu verbreiten.

Einen provisorischen Höhepunkt erreichte diese Tendenz im Kontext der Krim-Annexion und des Krieges in der Ostukraine 2014. Während Putin den »Tag des Sieges der Roten Armee und der sowjetischen Bevölkerung über Nazideutschland im Großen Vaterländischen Krieg« zum Feiertag der »russischen Welt« machte, wurde dieser Tag in der Ukraine 2015 in den »Tag des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg« europäisch umgedeutet.

DILEMMA Putins Umgang mit dem »Tag des Sieges« spaltete die jüdische Gemeinschaft: Während manche Juden in Russland sowie im Ausland das Kreml-Narrativ übernahmen, war er für jüdische Sympathisanten der Ukraine, die auf den »Tag des Sieges« nicht verzichten wollten, zu einer Herausforderung geworden.

Vor 2022 konnten sie dieses Dilemma allerdings noch halbwegs umgehen, indem sie zwischen Putins Inszenierung und dem historischen Kern des Feiertages differenzierten. Nach dem 9. Mai 2022, bei dem in Russland eine anti-ukrainische und antiwestliche Propagandahysterie entfesselt sowie ein Angriffskrieg gegen den Nachbarstaat gefeiert wird – ein Krieg, in dem die letzten Holocaust-Überlebenden sterben oder fliehen müssen –, wird das wohl kaum noch möglich sein.

In den vergangenen Wochen hat Wladimir Putin viel zerstört: menschliche Leben und ukrainische Städte, die Zukunft seines eigenen Landes, Sicherheit und Stabilität in Europa. Sein Zerstörungswahn scheint keine Grenzen mehr zu kennen: Und so wird ihm leider auch der »Tag des Sieges« zum Opfer fallen.

Der Autor ist Historiker in Düsseldorf.

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