KZ-Sekretärin

Nur Zaungäste?

Die 96-jährige Angeklagte Irmgard F. mit ihren Anwälten (l.); Vorsitzender Richter Dominik Groß (5.v.r) und weitere Prozessbeteiligte Foto: picture alliance/dpa/dpa-Pool

Eigentlich geht es im Prozess gegen die mutmaßliche NS-Verbrecherin Irmgard F. vor dem Landgericht Itzehoe gerade um Erläuterungen eines Sachverständigen. Der Historiker Stefan Hördler, ein versierter Experte in der Forschung zu NS-Konzentrationslagern, erklärt den Vernichtungsapparat und die Aufgabe von Frauen in Konzentrationslagern. F. war von Juni 1943 bis April 1945 Stenotypistin und Sekretärin des Kommandanten des KZ Stutthof bei Danzig.

Bereits im Vorfeld des Prozesses hatten Nebenklagevertreter das Gericht kritisiert – damals ging es um die Begutachtung von F. zur Verhandlungsfähigkeit und um den Verhandlungsort. Beim Prozessbeginn wurden die Unstimmigkeiten dann noch deutlicher: Nach der Anklageverlesung und der Erwiderung durch die Verteidiger wollte der Nebenklagevertreter Onur Özata ein Eröffnungsstatement verlesen.

streit Der Vorsitzende der 3. Großen Jugendstrafkammer, Dominik Groß, verwehrte ihm dies. Die Strafprozessordnung sehe dieses formal nicht vor, so das Gericht. Der Streit um das Anliegen des Anwalts kostete wertvolle Zeit, denn gegen die 96-jährige Angeklagte kann nur rund zwei Stunden am Tag verhandelt werden.

Einige Anwälte werfen dem Gericht mangelnde Sensibilität vor.

»Der Vorsitzende hat kein Interesse daran, die Stimme der Überlebenden zu hören«, sagt Rechtsanwalt Özata der Jüdischen Allgemeinen. »Er schneidet der Nebenklage das Wort ab.« Das Gericht verkenne die Bedeutung des Verfahrens. »Der Vorsitzende ist formalistisch, empathielos und unkommunikativ«, kritisiert der Nebenklagevertreter.

»Es ist gerade nicht Aufgabe des Gerichts, das Unrecht im Allgemeinen noch einmal aufzuarbeiten. Das kann und darf das Gericht gar nicht tun, sondern es muss die Anklagevorwürfe prüfen und gucken, ob eine individuelle Schuld der Angeklagten besteht«, sagte eine Gerichtssprecherin zu den Vorwürfen.

TRAGWEITE Auch andere Anwälte, die Überlebende vertreten, werfen dem Gericht mangelnde Sensibilität vor. Als »respektlose Frechheit« bezeichnete etwa Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler eine Formulierung im Beschluss der Kammer zur Ablehnung des Statements seines Kollegen Özata. Anwalt Ernst von Münchhausen meint: »Der Vorsitzende ist sich offenbar der historischen Tragweite des Verfahrens nicht bewusst.« Besonders ärgerlich ist für von Münchhausen, dass Richter Groß »gegenüber der Nebenklage den angezeigten Respekt und die notwendige Sensibilität vermissen lässt«.

Der Nebenklagevertreter Hans-Jürgen Förster bemängelt ein »fehlendes Augenmaß« des Vorsitzenden. Juristisch sei die Entscheidung, dass den Anwälten der Nebenkläger kein Eröffnungsstatement zusteht, nicht falsch. Die Verhandlungsführung empfindet Förster jedoch als »nicht souverän«. Gerade in einem historisch so bedeutsamen Verfahren müssten die »Opferinteressen im besonderen Maße berücksichtigt werden«, sagt der Jurist.

Nicht alle Anwälte im Prozess kritisieren die Prozessführung des Vorsitzenden. So loben etwa die Hamburger Rechtsanwältin Christine Siegrot, die einzige Frau in der Riege der Nebenklagevertreter, und der Düsseldorfer Anwalt Rajmund Niwinski die Arbeit des Gerichts. Er habe »nichts auszusetzen« an der Prozessführung des Vorsitzenden, sagt Niwinski im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Für ein »Opening Statement« der Nebenklage gebe es »keine gesetzliche Grundlage«, so der Anwalt.

Das Opening Statement erlaubt es der Verteidigung, frühzeitig zu der mit der Anklageschrift verschriftlichten Hypothese der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen.

Das Opening Statement erlaubt es der Verteidigung, frühzeitig zu der mit der Anklageschrift verschriftlichten Hypothese der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen. Die Zulassung im Anschluss hieran von weiteren Eingangserklärungen einzelner Nebenkläger würde nicht nur zu einer Verfahrensverzögerung führen, sondern insbesondere die Wirkung des Opening Statements der Verteidigung unzulässigerweise verwässern. Niwinski sagt, er könne die Überraschung von Richter Groß deshalb nachvollziehen, als am ersten Verhandlungstag Anwalt Özata ein vorbereitetes Statement verlesen wollte.

REGELN Dass andere Nebenklagevertreter dem Gericht vorwerfen, die Nebenkläger zu »Zaungästen« zu degradieren, findet Niwinski »befremdlich«. Deswegen distanzierte er sich im Prozess auch von den Äußerungen seiner Kollegen. Die Strafprozessordnung dürfe nicht nach Belieben ausgedehnt werden, mahnt Niwinski. »Es ist immer noch ein regulärer Strafprozess.«

Auch der Vorwurf der »Respektlosigkeit« des Gerichts gegenüber den Nebenklagevertretern teilt Niwinski nicht. Der Vorsitzende halte sich streng an die Regeln – und das sei auch richtig so. »Die Taten, über die das Landgericht Itzehoe zu urteilen hat, hatten ihre Grundlage in einem Unrechtsstaat, in dem Schauprozesse geführt und Verfahrensrechte von Regimegegnern missachtet wurden«, erläutert Niwinski. »Es wäre anzunehmen, dass sich alle Nebenkläger als Opfer dieses Unrechtsstaats vor allem ein gerechtes Urteil wünschen. Ein solches kann es aber nur geben, wenn das Verfahrensrecht kompromisslos eingehalten und geschützt wird.«

Rechtsanwalt Niwinski vertritt auch in anderen Verfahren gegen mutmaßliche NS-Täter Überlebende und Angehörige von Ermordeten in der Nebenklage. Er plädiert dafür, dass die Nebenklagevertreter streng in der Sache argumentieren sollten. »Man darf nicht vergessen, dass das Strafprozesse sind und keine Geschichtsstunden.« Es sei dennoch wichtig, dass sich möglichst viele Nebenkläger dem Prozess anschließen – »um der Welt zu zeigen, dass es noch Überlebende gibt und dass die Geschichte der Konzentrationslager viel jünger ist, als es manche glauben wollen«.

Deutschland

Shahak Shapira »superverbittert« über Antisemitismus

Shahak Shapira spricht offen über seinen Frust angesichts von Antisemitismus in Deutschland – und wie er mit politischer Comedy darauf reagiert

 29.12.2025

Analyse

Warum die Anerkennung Somalilands so viel Aufsehen erregt

Das kleine Land am Horn von Afrika hat plötzlich eine große geopolitische Bedeutung. Dafür gibt es gute Gründe

von Ralf Balke  29.12.2025

Kommentar

Wer Glaubenssymbole angreift, will Gläubige angreifen

Egal ob abgerissene Mesusot, beschmierte Moscheen oder verwüstete Kirchen: Politik und Religion werden zurzeit wieder zu einem hochexplosiven Gemisch. Dabei sollte man beides streng trennen

 29.12.2025

Großbritannien

Freigelassener Demokratie-Aktivist rief zum Mord an »Zionisten« auf

Der Brite Alaa Abdel Fattah galt als Held der ägyptischen Demokratiebewegung. Doch nach seiner Freilassung und Ankunft in London kamen judenfeindliche Tweets ans Licht. Jetzt wird seine Abschiebung gefordert

von Christoph Meyer, Johannes Sadek  29.12.2025

Teheran

Iran schießt mit russischer Hilfe drei Satelliten ins All

Im Mullah-Staat machen Gerüchte über einen möglichen neuen Militärkonflikt mit Israel die Runde. Mit Raumfahrtprojekten will das Land Stärke demonstrieren

 28.12.2025

Berlin

Mehr Demonstrationen mit Nahost-Bezug

Auf den Straßen der Hauptstadt ist 2025 weniger demonstriert worden, die Kundgebungen mit Bezug zum Nahen Osten haben jedoch zugenommen

 28.12.2025

Berlin

»Jeder sollte sich überlegen, ob er mit dem Teufel ins Bett geht«

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hält Koalitionen mit der AfD auf Länderebene für gefährlich

 27.12.2025

Genua

Italien geht gegen mutmaßliches Hamas-Netzwerk vor

Die Ermittler decken ein Netzwerk zur Unterstützung der islamistischen Terrororganisation auf

 27.12.2025

Berlin

Wadephul: Keine deutsche Beteiligung an Gaza-Stabilisierungstruppe

Er sei dafür, »dass Deutschland eine vermittelnde Rolle einnimmt, um der Sicherheit Israels Rechnung zu tragen«, so der Außenminister

 26.12.2025