Zweite Zeitenwende. Dieser Begriff kennzeichnet nach dem Israelbesuch von Außenminister Gabriel den Stand der deutsch-israelischen Beziehungen. Das »andere Deutschland« bricht jetzt sein Schweigen. So formulierte es dieser Tage Jonathan Geffen, ein eher linker israelischer Journalist und Liedermacher. Was war die erste und was kennzeichnet die zweite Zeitenwende?
Die erste Zeitenwende war der 4. Mai 1981. Israels damaliger Premier Menachem Begin attackierte Kanzler Helmut Schmidt und »die« Deutschen wegen ihres Verhaltens im Holocaust und ihres ölpolitischen Opportunismus gegenüber der arabisch-
islamischen Welt. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit reagierte auf Begins vermeintliche »Auschwitzkeule«: Der jüdische Staat zählt seitdem, bis heute, in Umfragen bei der großen Mehrheit »der« Deutschen zu den weltweit unbeliebtesten Staaten.
Kein Zweifel, Begin hatte völlig überzogen, aber auch diese Geschichte hatte ihre Vorgeschichte. Sie besteht aus drei Teilen. Teil 1: Seit Mitte der 60er entwickelte die nationale und internationale Neue Linke, wie die Altlinke, einen geradezu militanten Israelhass.
Neulinke Die bundesdeutsche Neulinke, die 68er, wollte das »Establishment« auch israelpolitisch umformen. Die 68er begannen ihren »Marsch durch die Institutionen«. Eines ihrer Ziele war Willy Brandts SPD, später die Grünen. Auch Brandts Koalitionspartner, die FDP, pflegte unter Walter Scheel Distanz zu Israel. Im Jom-Kippur-Krieg, Oktober 1973, drohte Israel anfangs die Vernichtung. Die USA wollten über Deutschland Waffennachschub liefern. Die Antwort: Nein.
Jenes »Nein« war Teil 2 der Vorgeschichte: Brandts Nachfolger Helmut Schmidt verachtete die 68er. Doch auch er kanzelte Israel ab, denn sein Hauptinteresse galt dem Öl aus der islamischen Welt. Das hatte sich seit dem Ölschock und -boykott 1973/74 dramatisch verteuert. Zwar waren »die« Araber – auch wegen diverser Terroraktionen, nicht zuletzt während der Münchener Olympiade 1972 – wenig beliebt, aber ihrer Ölmacht wegen gefürchtet. Hand aufs Herz, so der bundesdeutsche Tenor, waren nicht »die« Israelis schuld an der »arabischen Erpressung«?
Teil 3 der Vorgeschichte: Das »andere«, neue, wiedervereinigte Deutschland ist mehrheitlich postheroisch und quasi pazifistisch. Es lehnt Gewalt als Mittel der Politik ab. Das Motto: »Nie wieder Gewalt, nie wieder Täter!« Die Mehrheit der Juden und Israelis hat aus derselben Geschichte andere Lehren gezogen: »Nie wieder Opfer, nie wieder wehrlos!« Ergo: »Die« Deutschen und »die« Israelis sind mental Lichtjahre voneinander entfernt. Zur Fassade deutscher Israelpolitik gehörte »vor Gabriel« das ritualisierte Verschweigen dieser Tatsache. »Seit Gabriel«, der zweiten Zeitenwende, ist das regierungsamtliche Stillhalten beendet.
Breaking the Silence Das beweist auch sein Besuchsprogramm: nicht nur das Treffen mit Netanjahus jüdischen Lieblingsfeinden wie »Breaking the Silence«. Er traf sich auch mit israelischen Intellektuellen zum Abendessen. Es waren nur regierungsfeindliche geladen. Dabei gibt es in Israel, wie überall, sowohl regierungsfeindliche als auch -freundliche Intellektuelle, die sogar intelligent sind. Gehört nicht zur Intellektualität stets auch das Anhören der jeweiligen Gegenseite? Einseitigkeit und Intellektualität schließen einander aus.
Vergessen wir nicht Gabriels provokativ kenntnislosen Beitrag zum israelischen Schoa-Gedenktag: In der Frankfurter Rundschau ließ er die Welt wissen, dass Sozialdemokraten, wie Juden, Opfer des Holocaust gewesen seien. Diese Geschichtslektion war so bemerkenswert, dass sie nachträglich korrigiert wurde. Dass aber Netanjahus Absage in irgendeiner Weise mit dem Holocaust-Gedenken zusammenhängen könnte, nannte Gabriel eine »Ausrede«. Während der Reise soll Gabriel mehrfach gedroht ha-
ben: Wenn Israel nicht bald über eine Zweistaatenlösung verhandle, werde er seine Leute nicht mehr bremsen. Gabriel wollte neue bürgerliche SPD-Wähler aus dem großen Reservoir der Israel-Distanzierten gewinnen.
Wie sein Vorgänger Begin 1981, hat Netanjahu mit der Absage an Gabriel total überzogen. Er hat den übergeordneten Interessen seines Landes geschadet. Anders als Begin hat Netanjahu trotz allem nicht die »Auschwitzkeule« geschwungen. Seine Polemik war tagespolitisch. Das wurde in Deutschland ignoriert. Israels Regierung und Öffentlichkeit haben »den« Deutschen geschichtspolitisch längst die Hand zur Versöhnung gereicht. Das wird hierzulande kaum gewürdigt. So wenig wie die Tatsache, dass dieses neue Deutschland bei Israels Regierung und Öffentlichkeit trotz allem nach den USA der beliebteste und geachtetste Staat ist.
Alltag Das deutsch-israelische Verhältnis gleicht immer mehr dem deutsch-amerikanischen. Dankbarkeit für die Befreiung von Hitler, für die Wiederaufbauhilfen, die Wiederaufnahme in die zivilisierte Welt, die Verteidigung der Freiheit, die Wiedervereinigung? Nein. Krach gehört zum Alltag. Doch stärker als Versöhnung oder Dankbarkeit sind knallharte gemeinsame Interessen wie der Antiterrorkampf, IT-Technologie und Ökonomie. Bald kommt Frank-Walter Steinmeier nach Israel. Er wird sich bei seinem Amtsantritt präsidial geben. An der zweiten Zeitenwende ändert das nichts.
Soeben erschien das neue Buch des Historikers und Publizisten Michael Wolffsohn »Deutschjüdische Glückskinder. Eine Weltgeschichte meiner Familie« (dtv)