Schleswig-Holstein

»Mit viel Vorsicht«

Karien Prien Foto: Uwe Steinert

Frau Prien, Gewerkschaften werfen Ihnen derzeit vor, Sie gingen in diesen Tagen viel strenger mit Lehrern um, was Krankmeldungen wegen Corona angeht, als noch vor ein paar Monaten. Stimmt das?
Alle Bundesländer mussten in den vergangenen Monaten aufgrund der sich verändernden Empfehlungen des Robert Koch-Instituts und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ihre Strategie anpassen, auch wir. Das betrifft auch die Attestpflicht für Lehrerinnen und Lehrer sowie die Vorgabe, diese Atteste vom betriebsärztlichen Dienst überprüfen zu lassen. Es geht immer darum, eine Risikoeinschätzung nicht nur auf Grundlage bestehender Vorerkrankungen der betreffenden Person, sondern auch im Hinblick auf die Situation an der betreffenden Schule vor Ort zu erarbeiten.

Sie haben vorvergangene Woche eine Maskenpflicht für alle Schüler und Lehrer außerhalb des Klassenzimmers verhängt. Vor Kurzem waren Sie noch dagegen. Warum der Sinneswandel?
Wir haben in den vergangenen Monaten in diesem Punkt viel hinzugelernt. Wir wissen heute, dass das Tragen einer Maske mit Blick auf den Fremdschutz, aber auch den Eigenschutz eine Wirksamkeit entfaltet. Wir haben zunächst mit einer dringenden Empfehlung an die Schulen gearbeitet, was das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes angeht. In den letzten Wochen haben wir feststellen müssen, dass die Gerichte hier eine rechtliche Klarstellung in der Corona-Verordnung einfordern – deshalb jetzt die Pflicht.

Mit anderen Worten: Sie verändern die Vorschriften ständig im Licht des Infektionsgeschehens?
Ja, natürlich. In Schleswig-Holstein haben wir als eines der ersten Bundesländer den Schulbetrieb wiederaufgenommen. Wir mussten deshalb notgedrungen in einigen Punkten vorangehen.

Würden Sie im Notfall wieder Schulschließungen in Betracht ziehen?
Flächendeckende Schulschließungen sehe ich derzeit zum Glück nicht. Im Moment fahren wir sehr gut damit, dass, wo nötig, einzelne Kohorten zu Hause bleiben. Selbst die Schließung einer ganzen Schule sehe ich nur als ultima ratio. Wir beraten uns jede Woche mit Virologen und anderen Experten.

Was heißt das konkret für den Unterricht?
Wir fahren hier eine Doppelstrategie: Einerseits ermöglichen wir den Regelbetrieb an Schulen, den Präsenzunterricht unter Corona-Bedingungen. Andererseits dämmen wir, wenn es einen Corona-Fall an einer Schule gibt, durch konsequente Maßnahmen die weitere Ausbreitung des Virus ein. Es hat seit dem Ferienende vor vier Wochen keinen Anstieg des Infektionsgeschehens in Schleswig-Holstein gegeben und auch keinen Corona-Hotspot an einer Schule. Deshalb glaube ich, dass wir mit unserer Strategie richtigliegen.

Bald stehen die Hohen Feiertage an, die Synagogen werden womöglich ziemlich voll werden. Für wie gefährlich halten Sie die Lage?
Die Kultusgemeinden hier im Land haben bislang sehr verantwortungsvoll gehandelt und gute Hygienekonzepte vorgelegt. Dennoch darf man nicht außer Acht lassen, dass es auch in unseren Gemeinden viele ältere Menschen gibt, die besonders vulnerabel sind. Deshalb können wir Rosch Haschana und Jom Kippur nur mit viel Vorsicht und unter Einhaltung strenger Hygienevorschriften begehen. Ich habe aber keine Zweifel daran, dass das bei uns auch passieren wird.

Viele Bürger gehen gegen die coronabedingten Beschränkungen auf die Straße. Manche hängen sogar abstrusen Verschwörungstheorien an. Was entgegnen Sie als Regierungsmitglied diesen Leuten?
Es gibt im Augenblick eine wahnsinnige Bandbreite an Meinungen. Auf der einen Seite sind da Leute, die das Tragen von Masken in Schulen und anderswo strikt ablehnen und die Existenz einer Corona-Pandemie schlicht leugnen. Auf der anderen Seite gibt es zum Beispiel Eltern, die sich komplett weigern, ihre Kinder in den Schulunterricht zu schicken. Darüber hinaus finde ich es schlimm, dass oft die eigene Auffassung in einer völlig unangemessenen, unflätigen Sprache vorgebracht wird.

Wie kann die Politik in dieser aufgeheizten Situation zu richtigen Entscheidungen gelangen?
Wir müssen zunächst einmal auf die Einschätzung der Wissenschaft und der Experten vertrauen. Und wir müssen, nach einem transparenten Abwägungsprozess, am Ende Entscheidungen treffen. Dafür sind wir ja gewählt. Wichtig finde ich, dass wir maßvoll agieren und die Interessen der Mehrheit in der Mitte im Auge behalten.

Sie sind auch Sprecherin des Jüdischen Forums in der CDU. Der Antisemitismus in Deutschland ist aktuell auf erschreckend hohem Niveau. Was kann dagegen unternommen werden?
Mit den sozialen Medien und dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien sind heute wieder Dinge sagbar, die nicht nur unsäglich sind, sondern lange Zeit auch unsagbar waren. Um dagegen etwas zu tun, braucht es Bildung, Aufklärung und die Begegnung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen. Wir müssen auch an Schulen pädagogisch arbeiten. Es darf nicht ohne Reaktion bleiben, wenn sich antisemitische oder antiisraelische Sprache manifestiert. Gerade die Institution Schule muss hier Antworten geben.

Es wird gelegentlich der Vorwurf laut, dass antisemitische Vorfälle an deutschen Schulen nicht gemeldet, sondern eher unter den Teppich gekehrt werden. Finden Sie nicht, dass es hier eine Meldepflicht braucht?
Wir sind ja an der Schule in einem pädagogischen Raum, und wir müssen aufpassen, dass wir auf eine angemessene Art und Weise reagieren. Nicht jede Äußerung eines Schimpfwortes sollte gleich zur öffentlichen Anprangerung der betreffenden Schule führen. Wichtig ist aber, dass überhaupt darauf reagiert wird. Was die Meldepflicht angeht, so haben wir Schwellen eingeführt, die die Schwere des Vergehens berücksichtigen.

Ein offener Brief von 60 Akademikern und Künstlern hat vor Kurzem für Wirbel gesorgt. Darin wird behauptet, der Vorwurf des Antisemitismus werde im Zusammenhang mit Kritik an Israel zu schnell erhoben. Stimmt das?
Ich stelle fest, dass diese Gruppe ein hohes Maß an Empfindlichkeit aufweist. Denn wenn jemand so harte Kritik an Israel äußert, muss er sich schon fragen lassen, warum er zu einer so pauschalen Verurteilung eines ganzen Landes und seines politischen Systems gelangt. Es äußert ja schließlich auch niemand Dänemark- oder Island-Kritik. Natürlich kann man Israel-Kritik äußern – nur sollte man dann eben auch mit Gegenwind rechnen.

Es gibt in Deutschland nur wenige jüdische Politikerinnen und Politiker wie Sie. Gibt es Ihrer Meinung nach eine gewisse Hemmschwelle unter Juden in Deutschland, sich parteipolitisch zu engagieren, und wenn ja, warum?
Lange Zeit gab es in Deutschland eine Beklommenheit im Umgang mit dem Jüdischen – auf allen Seiten. Ich hoffe, die jüngere Generation überwindet dieses Erbe der Vergangenheit. Ein toleranter, gelassener Umgang mit der Religion des Nächsten muss endlich selbstverständlich werden.

Mit der Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein sprach Michael Thaidigsmann.

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