65. Jubiläum

Mit einer Stimme

Im Zentralrat der Juden sind 23 Landesverbände mit 108 Gemeinden organisiert. Foto: dpa, imago, Marco Limberg

Es gab damals keinen Festakt. Es war auch kein Politiker zugegen. Am 19. Juli 1950 trafen sich einige wenige jüdische Repräsentanten in einer Frankfurter Privatwohnung und gründeten einen Verband. Welche Zukunft dieser Verband in Deutschland haben würde, war ungewiss.

Er war notwendig geworden: Es galt, für die neu entstandenen jüdischen Gemeinden eine politische Interessenvertretung zu gründen. Jemand musste sich um die sozialen Belange der jüdischen Gemeinschaft kümmern. Die Entschädigungs- und Wiedergutmachungsverhandlungen hatten begonnen – und die Politik fragte zunehmend nach Ansprechpartnern auf jüdischer Seite.

pragmatismus Es war viel Pragmatismus und wenig Euphorie im Spiel, als vor 65 Jahren der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet wurde. Verwunderlich war das nicht, nur fünf Jahre nach der Schoa. Eine sehr kleine Schar Überlebender hatte damit begonnen, jüdische Gemeinden wieder aufzubauen. Die DP-Camps wurden geschlossen. Der Staat Israel war gegründet worden. Viele Juden verließen das Land der Täter. Auch viele Gemeindemitglieder konnten für Deutschland verständlicherweise keine Heimatgefühle (mehr) aufbringen. Sie betrachteten ihren Aufenthalt als vorübergehend.

Aus der Vorläufigkeit sind mittlerweile 65 Jahre geworden. Und heute können wir sagen: Wir blicken dankbar zurück und selbstbewusst nach vorne! Dankbar sind wir allen voran unseren Gründervätern. Dass sie nach allem, was geschehen war, den Mut und die Energie aufbrachten, eine deutschlandweite jüdische Interessenvertretung ins Leben zu rufen, war nicht selbstverständlich. Und sie trafen eine sehr kluge Entscheidung: Sie ließen den jüdischen Gemeinden ihre Autonomie. Der Zentralrat bildete lediglich das Dach. So ist es bis heute.

Auch wenn damals wohl kaum einer der jüdischen Repräsentanten die Absicht hatte, eine auf Dauer angelegte jüdische Gemeinschaft in Deutschland aufzubauen, erwies sich diese Gemeindeautonomie doch letztlich als entscheidende Voraussetzung genau dafür. Denn jüdische Gemeinden waren auch schon vor dem Krieg sehr unterschiedlich und sehr selbstständig. Sie waren in ihrer jeweiligen Region verwurzelt. Eine jüdische Gemeinde in Hamburg tickte anders als eine jüdische Landgemeinde in Bayern.

alteingesessene Nach dem Krieg waren zwar von den Alteingesessenen kaum noch welche übrig. Viele Juden aus Osteuropa kamen hinzu und veränderten die Gemeindestrukturen. Doch auch, um sich neu zusammenzufinden, war die Autonomie der Gemeinden wichtig. In den Gemeinden herrschte zunächst die orthodoxe beziehungsweise traditionelle Ausrichtung vor. Später bildeten sich auch liberale Gemeinden. Sie alle konnten unter dem Dach des Zentralrats der Juden ihren Platz finden. Ohne ausreichenden Freiraum für die Gemeinden wäre dies nicht möglich gewesen.

So versteht sich der Zentralrat bis heute: Wir bilden das Dach über den Gemeinden. Wir wollen jedoch nicht ein Dach sein, das irgendwo über den Gemeinden schwebt. Nein, unser Dach ist mit dem Haus fest verbunden. Das Fundament bilden die Gemeinden.

Für sie ist der Zentralrat mit zahlreichen Angeboten ein verlässlicher Partner: Wir haben für unsere jungen Leute die Organisation der Jewrovision – des jüdischen Tanz- und Gesangswettbewerbs für Jugendliche – übernommen. Alle Gemeindemitglieder von Jung bis Alt dürfen sich angesprochen fühlen, wenn wir zum Gemeindetag einladen. 2016 wird das wieder der Fall sein.

Ebenso unterstützen wir in vielfältiger Weise die Gemeinden beim Mitzvah Day. Dank der Initiative des Zentralrats beteiligen sich immer mehr Gemeinden an diesem jüdischen Aktionstag für soziales Handeln. Direkt profitieren die Gemeinden auch von Seminaren der Bildungsabteilung und von Integrationsförderungen des Zentralrats. Für unsere Veteranen haben wir zum 70. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland einen Festakt in Berlin ausgerichtet – um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

interessen Ein gutes Dach bietet aber auch Schutz. Eine zentrale Aufgabe des Zentralrats ist daher die Vertretung der Interessen der Gemeinden nach außen, in die Politik und Gesellschaft. Von Anfang an standen die Türen der Politik für den Zentralrat offen. Das ist so geblieben. Erst jüngst besuchte Bundespräsident Joachim Gauck die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die vom Zentralrat getragen wird.

Die jüdische Gemeinschaft ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gewachsen. Auch dafür sind wir sehr dankbar. Erst durch die jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion konnte sich ein so reges Gemeindeleben entwickeln, wie es sich vor 65 Jahren niemand vorgestellt hätte. Vor allem aber sind wir dankbar, dass wir seit 70 Jahren in einem demokratischen Rechtsstaat und mit weiter Akzeptanz in der Gesellschaft sicher hier leben können. Diese Erfahrung unterscheidet uns von den Gründern des Zentralrats. Es ist für uns daher viel leichter, mutig in die Zukunft zu blicken.

Es gab zwar in all diesen Jahrzehnten Antisemitismus, Anfeindungen, Bedrohungen und Übergriffe. Es gibt all dies weiterhin. Doch davon lassen wir uns nicht einschüchtern. Die jüdische Gemeinschaft gehört zu Deutschland. Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird ihre Interessen auch in den kommenden Jahrzehnten vertreten, selbstbewusst und mit Zuversicht.

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Parteien

Justiz prüft Äußerungen nach Neugründung von AfD-Jugend 

Nach einer Rede beim AfD-Jugendtreffen prüft die Staatsanwaltschaft Gießen mögliche Straftatbestände

von 
janet Ben Hassin  10.12.2025

Debatte

Merz, Trump und die Kritik an der Migration

Deutschlands Bundeskanzler reagiert auf die Vorwürfe des US-Präsidenten

von Jörg Blank  10.12.2025

Debatte

Wie umgehen mit Xavier Naidoo?

Der Sänger kehrt auf die großen Bühnen zurück. Ausverkaufte Hallen treffen auf Antisemitismus-Vorfälle, anhängige Verfahren und eine umstrittene Entschuldigung - und auf die Frage, wie man heute dazu steht

von Stefanie Järkel, Jonas-Erik Schmidt  10.12.2025

Initiative

Bayerns Landtag will Yad-Vashem-Bildungszentrum in Freistaat holen

Die Idee hatte die Ampel-Koalition von Olaf Scholz: Eine Außenstelle der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Deutschland. Der Bayerische Landtag hat sich nun für einen Standort im Freistaat ausgesprochen

von Barbara Just  10.12.2025

Paris/Brüssel

EU-Gaza-Hilfe: Französischer Politiker hat »große Bedenken«

Benjamin Haddad, Frankreichs Staatssekretär für Europafragen, hat die Europäische Kommission aufgefordert, ihre Zahlungen an NGOs, die im Gazastreifen operieren, besser zu überwachen

 10.12.2025

Aufarbeitung

Französische Entnazifizierungs-Dokumente erstmals online abrufbar

Neue Hinweise zu Leni Riefenstahl und Martin Heidegger in der NS-Zeit: Künftig können Forscher online auf französische Akten zugreifen. Experten erwarten neue Erkenntnisse

von Volker Hasenauer  10.12.2025

Deutschland

Wegen Antisemitismus und AfD: Schauspiellegende Armin Mueller-Stahl (95) denkt ans auswandern

Armin Mueller-Stahl spricht offen über seine Gelassenheit gegenüber dem Tod – und warum aktuelle Entwicklungen ihn dazu bringen, übers Auswandern nachzudenken

 10.12.2025

Justiz

Mutmaßlicher Entführer: Chef eines israelischen Sicherheitsunternehmens packt aus

Die Hintergründe

 10.12.2025

Fußball

Sorge vor Maccabi-Spiel in Stuttgart

Tausende Polizisten, Metalldetektoren beim Einlass, Sorge vor Gewalt: Warum der Besuch von Maccabi Tel Aviv in der Europa League beim VfB aufgrund der politischen Lage kein sportlicher Alltag ist.

 10.12.2025