Analyse

Mit aller Konsequenz?

Foto: Getty Images/ iStockphoto

Verschiedene Entscheidungen von Staatsanwaltschaft und Gericht haben in den vergangenen Wochen für Schlagzeilen, allgemeines Kopfschütteln und harsche Kritik gesorgt – und Juden in diesem Land erheblich verunsichert. Dabei muss die mörderische Attacke auf die Synagoge in Halle an dieser Stelle gar nicht erst erwähnt werden, um klarzustellen: Die steigende Dichte und zunehmende Hemmungslosigkeit antisemitischer Angriffe in den vergangenen Wochen und Monaten erschüttern die jüdische Gemeinschaft nachhaltig. Und die jüngsten Entscheidungen der Justiz manifestieren das Gefühl, der Bedrohung schutzlos überlassen zu werden.

Doch sind es unvollkommene Gesetze? Oder ist die deutsche Justiz nicht willens, jüdische Bürger zu beschützen? Ist eine gesetzliche Norm einschlägig, dürfen Gerichte und Staatsanwaltschaften oft nach freiem, aber pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Ein kurzer Blick in die Details der Einzelfälle verdeutlicht dies.

Ist die deutsche Justiz nicht willens, jüdische Bürger zu beschützen?

terrorabsicht Berlin-Mitte: Ein Mann klettert am Freitag vor Jom Kippur über die Absperrung der Neuen Synagoge und bedroht unter »Fuck Israel«- und »Allahu Akbar«-Rufen die Sicherheitskräfte mit einem Messer. Der Täter wird einen Tag später wieder auf freien Fuß gesetzt. Unverständnis, Entsetzen und scharfe Kritik folgen, der Ruf nach einer Verhaftung wird laut, sei doch eine Terrorabsicht nicht auszuschließen.

Eine verlässliche Analyse ist nur nach Einsicht in die Ermittlungsakte möglich, doch kann ein Justizirrtum nicht ausgeschlossen werden: Da der Täter wohl als Flüchtling ohne festen Wohnsitz eingestuft wurde, wäre Fluchtgefahr als Haftgrund einschlägig. Es ist die Bedeutung der Sache in der Gesamtschau, mit der gerade vor dem Hintergrund des Anschlags in Halle und der wachsenden antisemitischen Angriffe eine Untersuchungshaft plausibel begründet werden könnte.

Ein weiterer Fall, diesmal aus Berlin-Wilmersdorf: Ende Juli wird Gemeinde­rabbiner Yehuda Teichtal bespuckt und antisemitisch beleidigt, als er mit seinem Sohn nach dem Synagogengottesdienst auf dem Heimweg ist. Der Fall erregt großes öffentliches Aufsehen. Der polizeiliche Staatsschutz übernimmt die Ermittlungen. Vier Tatverdächtige werden ausgemacht.

tatverdacht Vergangene Woche wurde bekannt, dass das Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. Begründung: unzureichender Tatverdacht. Die vier sollen sich geweigert haben, eine Aussage zu machen, unbeteiligte Zeugen gebe es nicht. Sollte dies zutreffen, sind den Ermittlungsbehörden tatsächlich die Hände gebunden: Die Unschuldsvermutung erfordert eine eindeutige Identifizierung des Täters. Dennoch: Dieses Ergebnis hinterlässt eine tiefe emotionale Unzufriedenheit und Verunsicherung.

Es entsteht das Gefühl, der Bedrohung schutzlos überlassen zu werden.

Blicken wir nach Münster: Dort hat das Oberverwaltungsgericht das Verbot der Dortmunder Polizei aufgehoben, im Rahmen einer Demonstration von Rechtsex­tremisten »Nie, nie, nie wieder Israel« zu skandieren. Die Parole sei zugunsten der Versammlungsfreiheit nicht als antisemitisch einzustufen, könne auch als »Kritik an der Politik des Staates Israel« dem Anliegen der Demonstration dienen.

Der antisemitische Aspekt der Israelkritik blieb dem Gericht trotz intensiver öffentlicher Debatten, zuletzt im Rahmen des BDS-Beschlusses des Bundestags, scheinbar verborgen. Doch gerade hier dürfte es sich um einen Fall wie aus dem Lehrbuch handeln – ein Beispiel für den sich als Israelkritik tarnenden Antisemitismus. Denn welche historischen Ereignisse sollen mit »Nie wieder Israel« bei einer Demonstration mit dem Anliegen »Sicherheit für die Nordstadt« vermieden werden?

holocaust-leugnung Eine ähnliche Entscheidung traf das Verwaltungsgericht Minden: Es hob die Verfügung der Polizei Bielefeld gegen den für den 9. November geplanten Aufmarsch der Partei »Die Rechte« auf, mit dem der Geburtstag der verurteilten Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck gewürdigt und deren Freilassung gefordert werden soll.

Das Gericht befindet: Der Zweck der Demonstration stehe nicht im Gegensatz zum Gedenktag. Diese Begründung erscheint mir nicht nur in ethischer, sondern gerade auch in rechtlicher Hinsicht fehlerhaft. Der Aufmarsch befeuert die Leugnung gerade des Teils der deutschen Geschichte, dessen Anbruch die Reichspogromnacht markiert.

Diese Reihe von Entscheidungen legt zumindest eine mangelnde Sensibilität der Justiz nahe. Richtern, die den Eindruck erwecken, sie würden einem von eigenen politischen Überzeugungen geprägten Begriff des Antisemitismus folgen, der oft den antizionistischen Aspekt aus dem Fokus lässt, sollte eine aktualisierte rechtliche Definition von Judenhass an die Hand gegeben werden – beispielsweise die der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA).

Es ist wichtig, die Taten zu verfolgen, anzuzeigen und den gesellschaftlichen Diskurs weiter zu sensibilisieren.

diskurs Es ist wichtig, auf dieser Grundlage die Taten immer wieder zu verfolgen, anzuzeigen und den gesellschaftlichen Diskurs rund um das Problem weiter zu sensibilisieren.

Die bayerische Staatsregierung fordert inzwischen, das besondere Unrecht antisemitischer Straftaten künftig stärker im Strafgesetzbuch zu betonen. Ziel seien angemessene harte Strafen. Auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat jetzt noch einmal deutlich gemacht, dass antisemitische Taten mit aller Konsequenz verfolgt werden müssen. Wir sollten sie beim Wort nehmen.

Die Autorin ist Rechtsanwältin in Berlin.

Wien

EBU: Boykott hat keine Folgen für Finanzierung des ESC 2026

Der Gesangswettbewerb steht unter Druck. Die Boykott-Welle hat laut der Europäischen Rundfunkunion aber keine Auswirkungen auf dessen Finanzierung. Es werden aktuell rund 35 Staaten erwartet

 05.12.2025

Offenbach

Synagoge beschmiert, Kinder durch Graffiti eingeschüchtert

Rabbiner Mendel Gurewitz: »Ich war der Meinung, dass wir hier in Offenbach mehr Toleranz zwischen den unterschiedlichen Kulturen und Religionen haben als etwa in Frankfurt oder in anderen Städten.«

 05.12.2025

Gaza

Wie die Hamas Hilfsorganisationen gefügig machte

Einer Auswertung von »NGO Monitor« zufolge konnten ausländische Organisationen in Gaza nur Hilsprojekte durchführen, wenn sie sich der Kontrolle durch die Hamas unterwarfen

von Michael Thaidigsmann  05.12.2025

Washington D.C.

Trump plant Übergang in Phase II des Gaza-Abkommens

Der nächste große Schritt erfolgt dem Präsidenten zufolge schon bald. Ein »Friedensrat« soll noch vor Weihnachten präsentiert werden

 05.12.2025

Berlin

Linken-Chef empört über Merz-Reise zu Netanjahu

Jan van Aken regt sich darüber auf, dass er Bundeskanzler Ministerpräsident Netanjahu treffen wird

 05.12.2025

Köln

Trotz Kritik: Sophie von der Tann erhält Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis

»Keine Auszeichnung für Propaganda und Antisemitismus« steht während der Preisvergabe auf einem Transparent, das Demonstranten vor dem WDR-Funkhaus tragen

 05.12.2025

Genf

Entscheidung gefällt: Israel bleibt im Eurovision Song Contest

Eine Mehrheit der 56 Mitgliedsländer in der European Broadcasting Union stellte sich am Donnerstag gegen den Ausschluss Israels. Nun wollen Länder wie Irland, Spanien und die Niederlande den Musikwettbewerb boykottieren

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025

Medien

»Die Kritik trifft mich, entbehrt aber jeder Grundlage«

Sophie von der Tann schwieg bislang zur scharfen Kritik. Doch jetzt reagiert die ARD-Journalistin auf die Vorwürfe

 04.12.2025

Karlsruhe/München

Mutmaßlicher Huthi-Terrorist angeklagt

Ein Mann soll für die Terrororganisation im Jemen gekämpft haben. Deutschlands oberste Anklagebehörde will ihn vor Gericht sehen

 04.12.2025