Babyn Jar

»Mehr Solidarität und Mitgefühl für die Ukraine«

Gedenkzeremonie zum Jahrestag des Nazi-Massakers an ukrainischen Juden in Babyn Jar (Archiv) Foto: imago

Babyn Jar

»Mehr Solidarität und Mitgefühl für die Ukraine«

Am Mittwoch wird in Kiew an das Massaker an 34.000 ukrainischen Juden erinnert

 05.10.2021 13:34 Uhr

Im Vorfeld des Besuchs von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine fordert der renommierte US-Historiker Timothy Snyder in der »Welt« mehr Solidarität der Deutschen mit der Ukraine und eine ausgewogenere Erinnerungskultur in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg.

Holocaust-Forscher Snyder forderte die Deutschen zu einem ausgewogeneren Geschichtsbild auf, wenn es um die NS-Vernichtungsgeschichte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion geht. »Die russische Propaganda war sehr gut darin, all das Leiden im Zweiten Weltkrieg für Russland zu reklamieren«, sagte er der »Welt«: Er hoffe, dass der Besuch des deutschen Präsidenten »zu mehr Ausgewogenheit« führe: »Etwa 60.000 Juden wurden in Russland ermordet, was natürlich eine furchtbar hohe Zahl ist, aber sie ist weitaus geringer als die Anzahl von Juden, die in der Ukraine oder in Belarus ermordet wurden.«

MISSVERSTÄNDNIS Steinmeiers Reise sei »sehr wichtig, um die Geschichte der deutschen Besatzung der Ukraine stärker ins deutsche Bewusstsein zu rücken«, so der in Yale lehrende Historiker: »Es ist ein trauriges, aber auch politisch bequemes Missverständnis, zu denken, dass all die Verbrechen in einem Ort namens Russland stattfanden«, so Snyder über die deutsche Erinnerungskultur.

Am Mittwochabend wird der Bundespräsident an der zentralen Gedenkfeier für die Opfer von Babyn Jar in Kiew teilnehmen und eine Ansprache halten.

»Sie ereigneten sich in der Sowjetunion, aber vor allem in den Sowjetrepubliken Ukraine und Belarus. Und je eher die Deutschen sich daran erinnern, desto eher werden sie beide Länder als eigenständige historische Subjekte begreifen.« Snyder forderte die Deutschen auf, sie sollten das Gespräch mit der Ukraine und Belarus über die Vergangenheit pflegen »auf derselben Ebene wie mit Russland«.

Angesichts der russischen Aggression gegen das Land forderte Snyder von den Deutschen mehr Solidarität und Mitgefühl für die Ukraine: »Als Russland 2014 die Ukraine überfiel, hätte es sehr geholfen, wenn mehr Deutsche die Ukraine als eigenständiges historisches Subjekt gesehen hätten und das Gefühl gehabt hätten, dass sie Sympathien empfinden sollten gegenüber dem Land. Leider war davon 2014 sehr wenig zu sehen, mit einigen positiven Ausnahmen, etwa bei den Grünen.«

Angesichts der russischen Aggression gegen das Land fordert Snyder von den Deutschen mehr Solidarität und Mitgefühl für die Ukraine.

Vor dem Besuch von Bundespräsident Steinmeier in Kiew aus Anlass des 80. Jahrestages des NS-Massakers von Babyn Jar übte unterdessen der ukrainische Botschafter in Berlin deutliche Kritik an der deutschen Erinnerungspolitik. Die Opfer der Ukraine während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg würden »immer noch von der deutschen Politik und Öffentlichkeit übersehen«, erklärte Andrij Melnyk im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

ERINNERUNGSPOLITIK In seinem Land gebe es deswegen ein wachsendes Gefühl der Ungerechtigkeit, welches der »gespaltenen Gedenkpolitik der Bundesrepublik« entspringe. Fünf Millionen Ukrainer seien den NS-Verbrechen zum Opfer gefallen, darunter auch 1,5 Millionen Juden.

Von der deutschen Politik erwarte man in Kiew, dass endlich die richtigen Schlüsse gezogen würden, auch im Hinblick auf die Anbindung der Ukraine an die Europäische Union und die NATO, so Melnyk.

Melnyk kritisiert, dass die ukrainischen Opfer im Zweiten Weltkrieg unter den Opfern der Sowjetunion subsumiert würden. Seine Teilnahme an der zentralen Gedenkfeier anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die UdSSR vom 22. Juni 1941 hatte er mit Blick auf das Deutsch-Russische Museum in Berlin als Ort der Gedenkfeier abgesagt.

PROGRAMM Bei seinem Besuch am Mittwoch wird Steinmeier zunächst mit dem Hubschrauber in die Kleinstadt Korjukiwka im Norden des Landes fliegen und Blumen niederlegen. Auch ein Gespräch mit Schülern und Lehrern ist vorgesehen. In Korjukiwka erschossen im März 1943 SS-Einheiten 6700 Ukrainer, darunter auch viele Frauen und Kinder.

Am Abend wird der Bundespräsident an der zentralen Gedenkfeier für die Opfer von Babyn Jar in Kiew teilnehmen und eine Ansprache halten. Reden werden zudem auch der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, und Israels Präsident Isaac Herzog halten.

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In der »Altweiberschlucht« am Rand der ukrainischen Hauptstadt ermordeten deutsche Spezialkommandos am 29. und 30. September 1941 innerhalb weniger Stunden fast 34.000 Juden. Es war eines der schlimmsten Massaker in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.

MASSAKER Am Vortag waren alle Juden in Kiew vor den gut eine Woche zuvor in der Stadt einmarschierten Deutschen aufgefordert worden, sich am nächsten Morgen unter Androhung der Todesstrafe an einer Straßenkreuzung einzufinden. Von dort wurden sie nackt an den Rand der Babyn-Jar-Schlucht getrieben und erschossen.

Babyn Jar geriet in der Zeit der Sowjetunion lange in Vergessenheit.

Durchgeführt wurden die Erschießungen von einem Sonderkommando der Einsatzgruppe unter Führung des SS-Offiziers Paul Blobel. Eine ukrainische Hilfstruppe half der SS bei der Umsetzung des Massenmordes. Nur wenige Menschen überlebten das Massaker, und auch in den Monaten danach diente die Schlucht als Mordplatz.

Die Leichen der Opfer wurden verscharrt, drei Jahre später aber zum Teil wieder ausgegraben und verbrannt, um das Verbrechen vor den heranrückenden Truppen der Roten Armee zu verbergen. Dies gelang aber nicht.

Dennoch geriet Babyn Jar in der Zeit der Sowjetunion lange in Vergessenheit. Erst in den vergangenen Jahren wurde mit dem Bau einer Gedenkstätte begonnen. In einer vor Kurzem veröffentlichten Umfrage konnte fast die Hälfte der befragten Ukrainer nicht sagen, wo genau sich Babyn Jar befinde.

RÜCKBLICK Bereits am 29. September hatten ranghohe Vertreter ukrainischer Religionsgemeinschaften mit einem interreligiösen Gebet an die Opfer des Massakers an den Kiewer Juden vor 80 Jahren durch deutsche Besatzungstruppen erinnert. Der Oberrabbiner der Ukraine, Mosche Reuven Azman, der orthodoxe Kiewer Metropolit Epiphanius und der griechisch-katholische Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk entzündeten in Babi Jar Kerzen.

Rabbiner Azman betonte, nach Babi Jar habe es Hunderte ähnliche Schluchten gegeben, in denen unschuldige Menschen ermordet worden sind. Bischof Schewtschuk rief dazu auf, auf die Stimme zu hören, die von Babi Jar zum Himmel schreie: »Das ist die Stimme unserer Brüder. Denn bevor wir Christen, Juden, Muslime, Ukrainer, Russen sind, sind wir Menschen, die von unserem Schöpfer berufen sind, in einer anderen Person einen Bruder zu sehen.«

Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj legte an einem Denkmal in der Schlucht Babi Jar Blumen nieder. In seiner Rede mahnte er zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sowie »im besonderen an die Tragödie von Babi Jar und den Holocaust«. Erinnerung sei eine Pflicht gegenüber künftigen Generationen.

»Babi Jar: zwei kurze Worte, die wie zwei kurze Schüsse klingen, aber lange und schreckliche Erinnerungen für mehrere Generationen mit sich bringen«, sagte Selenskyj. Denn in Babi Jar seien nicht nur zwei Schüsse gefallen. Hinter den zwei Worten stünden mehr als 100.000 Menschenleben und »Millionen verstümmelte Schicksale«. Die Tragödie von Babi Jar dürfe sich weder in der Ukraine noch in anderen Teilen Europas oder irgendwo anders auf der Welt jemals wiederholen. mth/ppe/kna

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