Standpunkt

Licht unter den Völkern

Auch zu Chanukka wieder ein Thema: Sollte jüdische Tradition in aller Öffentlichkeit oder lieber nur im Privaten gefeiert werden? Foto: dpa

Wollen Sie eine noch so unverfängliche Plauderei, ein Tischgespräch oder eine Familienfeier nachhaltig trüben? Dann lenken Sie das Gespräch entweder auf Religion oder Politik. Kombinieren Sie diese beiden Themen gar, so üben Sie sich in der Königsdisziplin destruktiver Gesprächsführung.

Zwar existiert gewiss kein Diskussionsverbot, aber dennoch scheint die Atmosphäre in derartigen Debatten geradezu toxisch, wobei vor allem die Befürworter einer von Religion und ihren Einflüssen radikal befreiten Politik und Gesellschaft zusehends heftiger und kompromissloser in Erscheinung treten, wie uns zuletzt die Beschneidungsdebatte aus dem Jahr 2012 gelehrt hat. Dabei wird jede noch so geringe Verbindung von Politik und Religion als Angriff auf die Errungenschaften der Aufklärung und der heiß ersehnten restlosen Entflechtung von Staat und Kirche verstanden.

öffentlichkeit Wie dem auch sei: Auch und gerade Juden selbst müssen sich immer wieder mit der schwierigen Frage auseinandersetzen, ob Religion denn nun reine Privatsache ist oder nicht. Gerade zu Chanukka ist das ein Thema, wenn es wieder einmal darum geht, das Lichterfest entweder draußen in aller Öffentlichkeit oder doch lieber drinnen in den eigenen vier Wänden zu feiern.

Doch im Gegensatz zu Atheisten oder Religionsgegnern, die meist klare und rigorose Ansichten in dieser Frage vertreten und sowohl eine strikte Trennung von Staat und Religion als auch eine Beschränkung von religiösem Bekenntnis und dessen Manifestation auf die Privatsphäre sehen wollen, fällt uns die Antwort oft um einiges schwerer.

Das hängt nicht nur damit zusammen, dass die Frage und ihre Auswirkungen für Politik, Gesellschaft und Kultur an sich zu komplex sind, um sie instinktiv und voreingenommen zu beantworten, sondern auch damit, dass Juden sich in einem starken ideologischen Spannungsverhältnis befinden. Denn einerseits haben sie im Laufe ihrer leidvollen Geschichte, die von Unterdrückung, Verfolgung und Vernichtung geprägt ist, immer wieder erfahren müssen, dass es keinen wirksameren Schutz für ihr Leben und Überleben gibt, als einen vitalen, weltanschaulich neutralen und auf den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit etablierten Staat. Einen Staat, in dem weder eine Religion wie das mittelalterliche Christentum oder der moderne radikale Islam noch eine Ersatzideologie wie der Kommunismus oder der Faschismus an den Schalthebeln politischer Macht sitzen.

alternativen
Ein solches politisches Dach bietet zwar auch keinen allumfassenden Schutz, aber es ist immer noch die beste aller derzeit realisierbaren Alternativen. Nicht umsonst sprach der Prophet Jeremia bereits vor gut 2600 Jahren, nachdem die Juden ins babylonische Exil verschleppt wurden: »Suchet der Stadt Bestes ... und betet für sie zu G’tt, denn wenn es ihr wohl ergeht, so geht es auch euch gut« (Jeremia 29,7). Andererseits hat gerade das jüdische Volk eine umfassende Moral, darauf beruhende Werte und eine handlungsbasierte Ethik verinnerlicht, die es ihm nahezu unmöglich machen, sich der aktiven Gestaltung von Politik und Gesellschaft zu enthalten.

Deswegen eifern Juden dem biblischen Auftrag, nach Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden zu streben, ganz im Sinne des Erfinders nach. Und so wie einst Abraham, Moses oder Jeremia mit G’tt um Gerechtigkeit rangen, engagiert sich das Judentum seither für die Unterstützung der Benachteiligten, bessere Lebensumstände und eine gerechte Gesellschaft. Außerdem hat es sich den biblischen Imperativ eingeprägt, ein Licht unter den Völkern zu sein und als Partner G’ttes an der Verbesserung der Welt mitzuarbeiten – Tikkun Olam.

Obwohl: Wenn man ehrlich ist, muss man eigentlich gestehen, dass die jüdische Welt heute mehr Chancen auslässt, als sie nutzt, um ihren eigenen Idealen gerecht zu werden. Es scheint beinahe so, als habe der Überbringer der Nachricht die zu überbringende Nachricht vergessen.

ideen Nachdem das Judentum der Welt universale Ideen wie die Würde des Menschen, die Heiligkeit des Lebens, die Gleichheit aller Menschen, den Schutz von sozial Benachteiligten, das Streben nach Freiheit oder das Ideal des Friedens geschenkt hat und zwei weitere Weltreligionen gebar, glaubt offenbar so mancher, sich auf dem religiösen Altenteil ausruhen zu können. Und da kommen ihm die Verfechter der Idee, dass Religion Privatsache sei, gerade recht. Doch schon ein flüchtiger Blick auf unsere Gesellschaft reicht aus, um festzustellen, dass noch viel Arbeit zu erledigen ist. Und zwar nicht nur im Privaten!

Deshalb ist es, beginnend im Mikrokosmos der eigenen Familie, aber nicht im Mindesten durch diesen begrenzt, höchste Zeit, sich die Grundlagen jüdischer Ethik wieder zu vergegenwärtigen und dem Ruf zu folgen, der seit Jahrtausenden nachhallt: als Partner G’ttes an der Verbesserung der Welt mitzuwirken. Dabei geht es nicht darum, der Gesellschaft eine religiöse Doktrin oder Lebensweise aufzuzwingen, wie mitunter halluziniert wird, sondern darum, die positive, inspirierende und verbindende Wirkung der jüdischen Ideale zu reanimieren und zum Wohle aller zu nutzen.

Die Einmischung in gesellschaftliche und politische Prozesse ist dabei genauso notwendig wie die Schaffung eines Bewusstseins, dessen Kern die Wiederentdeckung von Werten wie Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit und Fairness ist. Und wer will uns davon schon abhalten?

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

Philosophie

Hannah Arendt und die Freiheit des Denkens

Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren ihr Lebensthema. Sie sah ihre Aufgabe als politische Denkerin darin, die Welt und die Menschen zu verstehen. Die politische Theoretikerin starb vor 50 Jahren

von Jürgen Prause  02.12.2025

Verteidigung

Deutschland stellt Arrow 3 in Dienst

Erstmals kommt das Raketenabwehrsystem außerhalb Israels zum Einsatz

 02.12.2025 Aktualisiert

Interview

»Die Altersarmut bleibt«

Aron Schuster über das Ende des Härtefallfonds, Einmalzahlungen und Gerechtigkeit für jüdische Rentner

von Mascha Malburg  02.12.2025

Meinung

Die neue AfD-Jugendpartei ist kein bisschen weniger extrem

Die »Junge Alternative« wurde durch die »Generation Deutschland« abgelöst. Doch die Neuordnung der AfD-Jugendorganisation diente keineswegs ihrer Entradikalisierung

von Ruben Gerczikow  02.12.2025

Berlin

Zentrum für Politische Schönheit errichtet »Walter Lübcke Memorial« vor CDU-Zentrale

Am Freitag soll außerdem eine Gedenkveranstaltung mit Michel Friedman durchgeführt werden

 02.12.2025

Berlin

Israel-Flagge vor Rotem Rathaus eingeholt

Nach mehr als zwei Jahren wurde die Fahne am Dienstag vom Mast geholt. Die Hintergründe

 02.12.2025

Berlin

Steinmeier erinnert an Stiftungsgründung für NS-Zwangsarbeiter

Im Jahr 2000 gründeten die deutsche Wirtschaft und der Bund nach langem Vorlauf die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Millionen NS-Opfer erhielten zumindest einen symbolischen Betrag

 02.12.2025

Rechtsextremismus

Fragezeichen nach skurriler Rede bei AfD-Jugendkongress 

Wer steckt hinter dem mysteriösen Auftritt des Mannes, der mit einer Rede im Hitler-Stil den Gründungskongress der AfD-Jugend aufmischte? Ihm droht der Parteiausschluss

von Jörg Ratzsch  01.12.2025

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert