Schreiben

Kritik als Nabelschau

Literatur sei »immer selbstbezogener, dadurch kraftloser und provinzieller«, lautet der Vorwurf von Biller. Foto: Thinkstock

Es ist eben einfacher – keine neue Weisheit dies – zu urteilen, als selbst zu tun. Zu wissen wie, anstatt zu schreiben. Wie sonst lässt sich die Masse an Erklärungen, Thesen, Vorwürfen, darauf folgenden Debatten erklären, die eines zum Thema haben: das komplette Versagen (einzelne Beispiele der Unangreifbarkeit halber ausgenommen) der zeitgenössischen deutschen Literatur. Mal sind es die falschen Themen, mal ist es die Herkunft der Autoren.

Und der neueste Coup: zu angepasst, zu ängstlich, zu langweilig, zu wenig authentisch, die Literatur sei »immer selbstbezogener, dadurch kraftloser und provinzieller«. Vorgetragen von Maxim Biller in der ZEIT, hat er so viele Antworten in allen deutschsprachigen Feuilletons von Dietmar Dath bis Ijoma Mangold und allen dazwischen nach sich gezogen, wie wahrscheinlich erhofft.

Während unsereins sich, vielleicht naiverweise, fragt: Wenn sie doch wissen, wie sie geht, die gute, die wertvolle, die ehrliche, die vollkommene Literatur, warum sie dann nicht produzieren? Aber solch polemische Unsinnsfragen behandeln Debatten über den Zustand der Literatur naturgemäß nicht. Sie behandeln ganz andere Themen.

Anklageschrift Maxim Biller, ein Meister der hochsympathischen Eigenschaft des Hassens, schreibt zum Beispiel in seiner bitteren Anklageschrift: »Seit der Vertreibung der Juden aus der deutschen Literatur durch die Nationalsozialisten waren die deutschen Schriftsteller, Kritiker und Verleger jahrzehntelang fast nur noch unter sich« oder »Die Abwesenheit der jüdischen Ruhestörer tut unserer Literatur nicht gut«.

Er unterstellt damit, dass die deutsche Literatur ohne die jüdische, ohne die deutsch-jüdische verkommt, dass nach Peter Weiss, Elias Canetti und Marcel Reich-Ranicki niemand mehr komme, niemand mehr Ehrliches und Wildes und einfach Lesenswertes schaffe, und zwar weder bei den deutschen noch offensichtlich bei den jüdischen Autoren. Davon abgesehen, dass dieser Vorwurf, aus seiner Feder stammend, so neu nicht ist und doch sehr an den von 2000 und auch an den von 1992 erinnert, liegt ihm eine Überheblichkeit zugrunde, die abstoßend wirkt.

Es geht aber noch weiter: Die sogenannte Migrationsliteratur dieses Landes unter die Lupe nehmend (und dabei zerpflückend), wirft Biller jenen Autoren vor, dass sie »sich sehr früh – oft schon in ihrem Debüt, das normalerweise das weit offene Fenster zur Biografie eines jeden Autors ist – der herrschenden Ästhetik und Themenwahl anpassen«. Dass sie, wie zuletzt Saša Stanišic mit seinem neuen Roman Vor dem Fest, der in der Uckermark spielt, zu Opportunisten werden, sich Themen zuwenden, die nicht die ihren sind, sondern die der Deutschen – als könne man das so genau unterscheiden.

Herkunft Als müsse Saša Stanišic sein Leben lang über den Jugoslawienkrieg schreiben, Olga Grjasnowa über Aserbaidschan und Benjamin Stein über die jüdische Religion. Juden sowieso über Juden oder ihr Verhältnis zu Deutschen, die wiederum gern über ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus schreiben dürfen, weil, na eben, weil das so ist mit den Juden und Deutschen. Damit sperrt er all diese Autoren in eine Herkunftsdetermination, gegen die sie häufig ankämpfen und anschreiben: Auf eine Festlegung ihrer Person, ihres Schreibens, ihrer Kunst auf das Woher. Als gebe es für sie kein Wohin, kein Wo, keine anderen Themen, Zeiten, Interessen.

Biller möchte eine Story, »die voller Leben und Widersprüche ist«, und das ist – endlich – ein Wunsch, den er wohl mit jedem teilt, der Bücher liebt. Diese Storys sollen aber aus der Kultur, Herkunft und daraus resultierender Zerrissenheit der Autoren heraus entstehen und davon berichten, und wer jetzt an Ann Cotten, José F. A. Oliver, Feridun Zaimoglu, Marjana Gaponenko oder Zsuzsa Bánk denkt, der irrt sich, da ist der sogenannte Migrationshintergrund, leider, »fast immer nur Folklore oder szenische Beilage«.

hass Alles nicht gut genug. Was dann? Es kommt zuweilen der Eindruck auf, es ginge hier gar nicht um Literatur, nicht die Migrationsliteratur und auch nicht um die deutsche, wobei Biller die beiden auf verheerende und verstörende Weise voneinander trennt. Vielleicht ging es ihm einfach nur um das, was er so gut kann, nämlich den Hass. Den Hass, in diesem Fall auf Bücher, insbesondere auf die von sogenannten Chamisso-Autoren, aber auch um den Hass auf sich selbst.

Wenn er zum Beispiel in seinem Text, in dem es angeblich um Literatur geht, festhalten muss, dass es schwer auszuhalten sei in diesem Land »mit seinem depressiven Tatort-Kult, seinem Kinderhass, seinem schlechten Theater, mit seinem freundlichen Pass-dich-lieber-an-Rassismus, seinen ambivalenten Weltmachtreden und dem allgegenwärtigen Gesicht Hitlers, das man jeden Abend, aber wirklich jeden Abend irgendwo im Fernsehen sieht«. Vielleicht ging es Biller einfach mal wieder um den Hass. Den Hass auf sich selbst, weil er, wo er doch seit so vielen Jahren dagegen anschreibt, immer noch in diesem Land lebt, das schlechte, langweilige Literatur produziert.

Die Autorin, 1981 in Leningrad geboren, lebt als Schriftstellerin in München. 2013 erschien ihr Roman »Die Listensammlerin«.

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