Bundestag

»Julia, du wirst mich niemals zum Schweigen bringen«

Cansın Köktürk verlässt verärgert den Plenarsaal des Bundestages Foto: IMAGO/Political-Moments

Der Krieg in Gaza sorgt auch im Deutschen Bundestag für immer schärfere Auseinandersetzungen. Die werden zunehmend auch mit non-verbalen Mitteln geführt. Am Mittwoch kam es bei der Befragung von Außenminister Johann Wadephul (CDU) und seiner Kabinettskollegin Reem Alabali-Radovan (SPD), der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, zu gleich zwei Vorfällen im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes.

Von der Besuchertribüne brüllte eine Frau rund eine Minute lang »Free Palestine«, »Stop the genocide« und andere Parolen, bevor sie von einem Beamten der Bundespolizei unter heftiger Gegenwehr aus dem Saal gezerrt wurde.

Zuvor hatte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) eine Abgeordnete der Linkspartei von der Sitzung ausgeschlossen. Cansın Köktürk hatte ein schwarzes T-Shirt getragen, auf dem in großen weißen Lettern »Palestine« zu lesen war.

Der Zusatz »Free« fehlte zwar. Doch Klöckner sah das Kleidungsstück trotzdem als politische Botschaft an und bat Köktürk, den Plenarsaal zu verlassen. »Wir haben vereinbart – und das sind die klaren Regeln des Hauses –, dass weder Aufkleber noch sonstige Bekenntnisse auf T-Shirts eine Rolle spielen«, so die Parlamentspräsidentin.

Sie habe zuvor die Linken-Politikerin zuvor darauf hingewiesen, »ihren Pullover zu wechseln«. Weiter sagte Klöckner: »Das hatten wir nicht öffentlich gemacht. Sie lehnen das anscheinend ab. Dann würde ich Sie bitten, die Sitzung zu verlassen.« Einen Ordnungsruf erteilte Klöckner Köktürk aber nicht.

Dem kam Köktürk sichtlich genervt nach. Anschließend kommentierte sie den Vorfall auf ihrem Instagram-Account so: »Ja, Julia, du kannst mich aus dem Bundestag rauswerfen. Aber du wirst mich niemals zum Schweigen bringen.«

Die 31-jährige Politikerin aus Nordrhein-Westfalen warf der Parlamentsmehrheit vor, sie wolle das Leid in Gaza »wegignorieren«. Weiter schrieb sie: »In Gaza sterben jeden Tag Menschen. Es gibt keine Essenslieferung mehr. 100% der Palästinenser*innen hungern. Währenddessen im Bundestag: CDU-Außenminister Johann Wadephul bekräftigt, dass Deutschland weiter Waffen an Israel liefern will. Waffen für Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Und dann missbraucht Bundestagspräsidentin Julia Klöckner auch noch ihr Amt und wirft mich aus dem Plenum, weil auf meinem T-Shirt ›Palestine‹ steht.« Auf der Plattform X legte sie nach: »Ihr habt alle dermaßen versagt.«

»Schadet der Debattenkultur«

Wadephul rügte bei der Fragestunde Köktürks Fraktionskollegin Katrin Fey, die ebenfalls scharfe Kritik an Israel geübt hatte: »Frau Kollegin, mindestens eine Nebenbemerkung Ihrerseits zum Terror der Hamas hätte auch dazugehört.« Auch Köktürks T-Shirt sei nicht in Ordnung gewesen, so der Außenminister. »Ich kann Ihnen nur nahelegen, insgesamt zu überdenken, was Sie auch hervorrufen, wenn Sie Kolleginnen haben, die so ein Shirt hier im Plenarsaal tragen.« Das schade der »Debattenkultur«, für die alle Abgeordneten Verantwortung trügen, sagte der Außenminister.

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Für Cansın Köktürk war es nicht das erste Mal, dass sie mit den Kleidervorschriften im Bundestag in Konflikt geriet. Zur konstituierenden Sitzung des Bundestages Anfang April war sie mit einem Kufiya-Halstuch erschienen. Die CSU-Politikerin Daniela Ludwig bezeichnete das als »unerträgliche Provokation«.

Köktürk rechtfertigte das Tragen des umstrittenen »Palästinensertuchs« auf Instagram mit den Worten: »Ich trage das Tuch, weil bereits 2024 die vorläufigen Maßnahmen des IGH (Internationalen Gerichtshofs) gezeigt haben, dass nach Ansicht des Gerichts das Überleben der Palästinenser*innen in Gaza gefährdet war und nun ist.«

Auf X schrieb Köktürk am 11. Mai: »Solidarität mit Gaza & Kritik an den Kriegsverbrechen der israelischen Regierung wird als antisemitisch gebrandmarkt. Ihr sucht Antisemitismus dort, wo Unrecht benannt wird – und überseht echten dort, wo er aus dem rechten Lager kommt und tödlich ist. Ihr habt nichts verstanden.«

Meinungsbekundungen auf Kleidungsstücken sind im Bundestag grundsätzlich unerwünscht. Das gilt nicht nur für politische Botschaften. Als die CSU-Abgeordnete Dorothee Bär 2015 mit einem FC-Bayern-Trikot unter ihrer Jacke im Plenarsaal erschien, war es ein Abgeordneter der Linken, der daran Anstoß nahm. 2017 rügte Parlamentspräsident Norbert Lammert, dass mehrere Grünen-Parlamentarier T-Shirts mit der Aufschrift »Free Deniz« trugen, um für die Freilassung des in der Türkei inhaftierten »Welt«-Journalisten Deniz Yücel zu demonstrieren.

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