Thüringen

Instabile Verhältnisse

FDP-Politiker Thomas Kemmerich erklärte am 8. Feburar seinen Rücktritt als Ministerpräsident von Thüringen. Foto: dpa

Weimar, die Wirkungsstätte Goethes und Schillers, liegt im Herzen des Freistaats Thüringen. Wenn man in den letzten Tagen in Bezug auf die jüngste Ministerpräsidentenwahl von Weimarer Verhältnissen spricht, dann hat man nicht die großen Traditionen der deutschen Klassiker im Sinne, sondern die Endphase der Weimarer Republik mit ihren instabilen politischen Verhältnissen.

Die Parallelen lassen sich nicht übersehen. Die Parteienlandschaft zu Beginn der 1930er-Jahre war so gespalten, dass stabile Regierungsmehrheiten nicht mehr möglich waren. Kommunisten auf der einen Seite und Nationalsozialisten auf der anderen blockierten eine mögliche demokratische Regierungsbildung. Am Ende scheiterte die Republik an ihrer eigenen Unzulänglichkeit.

Nationalsozialisten Noch etwas haben Historiker schnell bemerkt: Als es 1923 in Thüringen eine Regierungsbildung von Sozialdemokraten und Kommunisten gab, marschierte die Reichswehr ein und zerstörte dieses Experiment einer »Volksfront«. Und 1930 wurde das »rote« Thüringen dann als erster deutscher Staat braun, als eine Regierung unter Einbeziehung der Nationalsozialisten gebildet wurde. Wilhelm Frick, einer der Beteiligten des Hitler-Putsches von 1923, wurde als erster Nationalsozialist Minister einer deutschen Regierung.

Die Linke von heute ist nicht die KPD von damals.

Wiederholt sich also die Geschichte? Nein, es mag Parallelen geben, aber ebenso auch Unterschiede. Die Linke von heute ist nicht die KPD von damals, und selbst die AfD ist nicht mit der NSDAP gleichzusetzen. Es finden keine blutigen Straßenkämpfe und Saalschlachten statt, und vor allem gibt es heute eines, was 1930 fehlte: den wirksamen Aufschrei der demokratischen Mehrheit.

Der durch eine billige Intrige an die Macht gekommene FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich musste nur 24 Stunden später wieder seinen Rücktritt ankündigen. Zu stark war der Protest von Seiten der Kanzlerin und der Führung seiner eigenen Partei in Berlin.

Farce Wenn man bei diesem Ereignis überhaupt von einer Wiederholung der Geschichte sprechen kann, dann höchstens im Sinne von Karl Marx’ Diktum, dass sich alle weltgeschichtlichen Vorgänge zweimal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Selten hat sich dies als so wahr erwiesen wie bei dieser Wahl. Von Erfurt sind es zwar nur 25 Kilometer nach Weimar. Doch ein anderer Ort scheint in diesen Tagen noch näher an der thüringischen Landeshauptstadt zu liegen: das imaginäre Schilda. Die gestandenen Politiker der CDU und der FDP in Thüringen haben sich als Schildbürger erwiesen.

Von einer tragfähigen Regierung ist der Freistaat noch weit entfernt.

Die AfD hat es geschafft, diesen demokratischen Parteien eins auszuwischen, indem sie einen eigenen Kandidaten zur Wahl aufgestellt hat, ihn aber gar nicht vorhatte zu wählen. Die »bürgerlichen« Parteien sind auf diesen Trick hereingefallen. Eine politische Farce allerersten Ranges. Und ein Schauspiel unwürdig eines demokratischen Prozesses.

Wieder einmal hat die AfD dadurch unterstrichen, dass sie sich zwar scheinbar den demokratischen Spielregeln verpflichtet, deren Geist aber ganz offensichtlich unterläuft. Der eigentliche politische Skandal aber setzte erst in dem Moment ein, in dem Herr Kemmerich die Wahl annahm. Jetzt wurde aus der Schmierenkomödie eine Tragödie. Bis dahin konnte man sich noch herausreden, der AfD auf den Leim gegangen zu sein. Nun aber fand man mehr Gefallen daran, politische Macht zu haben, als politische Verantwortung zu tragen. Zumindest für einen Tag.

Eine politische Farce allerersten Ranges. Und ein Schauspiel unwürdig eines demokratischen Prozesses.

Kann man nun aufatmen und sich zurücklehnen, denn am Ende hat ja mit dem erzwungenen Rücktritt Thomas Kemmerichs schließlich doch die politische Vernunft gesiegt? Schön wär’s! Die Tragikomödie geht ja erst einmal in den nächsten Akt.

In Berlin gehen die demokratischen Parteien aufeinander los. Die CDU rutscht in eine tiefe Krise, inklusive Rückzugsankündigung von Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Und von einer tragfähigen Regierung ist der Freistaat noch weit entfernt. Wenn es morgen Neuwahlen in Thüringen geben würde, so wäre der Verlierer wohl nicht die AfD.

Glaubwürdigkeit Verloren hat am Ende die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie. Es ist zu offensichtlich, dass nur der Druck aus Berlin dem Hazardspiel in Erfurt ein Ende setzte. Und für viele Menschen in Thüringen sieht es so aus, als ob ihre eigenen Geschicke von der Bundeshauptstadt aus gesteuert werden. Nicht mit einem Einmarsch der Reichswehr wie bei der links-linken Regierung 1923, aber eben doch auf Befehl von Berlin. Ob das wohl am Ende gut geht?

Die schwierigste Aufgabe ist nicht die Wahl einer neuen Regierung in Thüringen, sondern die Verankerung eines demokratischen Wertekonsens, zu dem auch gehört, Lehren aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte zu ziehen.

Bei den Wahlen von 2019 war die Flügel-AfD von Björn Höcke, der ein »anderes Deutschland« und eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« anstrebt, unter den jüngeren Wählern die populärste Partei. Unter den jungen Menschen Aufklärungsarbeit zu leisten und für die demokratischen Werte zu werben, ist eine gewaltige Herausforderung, die nicht auf Befehl aus Berlin zu leisten sein wird, sondern die aus den Schulen und Elternhäusern in Thüringen kommen muss. Wenn dies nicht gelingt, dann liegt Erfurt wohl doch näher an Weimar als an Schilda.

Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München.

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