Essay

In der Realität angekommen

Ukrainische Soldaten verteidigen ihr Land gegen Putins Angriff. Foto: imago images/SNA

»Es brent Brider es brent / Oj unser orem Schtetl nebech brent.« Hochdeutsch statt Jiddisch: »Es brennt Brüder, es brennt / Unser armes Städtchen brennt / Böse Winde wehen / reißen und blasen / Die Flammen werden stärker / Alles herum brennt / Und Ihr steht und schaut herum – mit verschränkten Armen.« Text und Musik dieses unter die Haut gehenden Liedes stammen vom Dichter, Komponisten und Tischler Mordechai Gebirtig, verfasst 1938 im Zusammenhang mit einem der vielen Pogrome in seiner Heimatstadt Krakau.

1942 wurde Gebirtig dort auf offener Straße von einem Soldaten der Deutschen Wehrmacht erschossen. Was für eine tagespolitische, tief tragische historische Symbolik! Man bekommt »Gänsehaut«.

Heute brennt die Ukraine. Diesmal wütet Putins Mordmaschinerie. Auch heute appelliert – zufällig und zugleich hoch symbolisch – ein Jude an seine, diesmal nicht nur jüdische, Umwelt, ja, an die ganze Freie Welt, an »uns«, nicht »mit verschränkten Armen« herumzustehen und zuzuschauen. Dieser Jude ist Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine. Sein Großvater war Offizier der Roten Armee und hat gegen Nazi-Deutschland sein Leben riskiert.

WANDEL An Präsident Selenskyjs Person zeigt sich die zusätzliche Tragik der seit 1991 nicht nur staatlich neuen, sondern auch ethisch erneuerten Ukraine. Die Nachfahren dieser einst zu Recht als »klassisch antisemitisch« geltenden Gesellschaft, die mit den NS-deutschen Mordmeistern in ungeheuerlicher Weise beim Judenmorden zusammengearbeitet hatte, wählten 2019 mit 73 Prozent den Juden Selenskyj zu ihrem Staatschef – ein geradezu revolutionärer national-ethischer Wandel. Nicht nur, doch auch deshalb verdiente die neue Ukraine jede Unterstützung moralisch motivierter Menschen und Staaten.

Aber »es brennt«, und wir schauen zu – und reden viel. Mit schlechtem Gewissen. Um dieses zu beruhigen, hatte die Bundesregierung der Ukraine, sozusagen als Grab-Beigabe, zunächst 5000 Helme sowie einen 300-Millionen-Euro-Kredit bewilligt.

Zwei Tage nach Beginn des russischen Feuersturms und als Reaktion auf den nationalen und internationalen Proteststurm gegen diesen provokativen Zynismus lenkte Berlin ein und beschloss, der Ukraine doch defensive Waffen zu liefern. Zu spät? Jedenfalls sind Politik und Gesellschaft in der Realität angekommen. Wird es anhalten? Zweifel sind erlaubt. Wer jahrzehntelang bis gestern A sagte und heute B, könnte morgen, mir nix, dir nix, C sagen.

Notfalls ist die Anwendung von Gewalt sowohl reaktiv als auch präventiv gerechtfertigt.

Was nach 1938 und von 1941 bis 1945 mit den Juden Polens, der Ukraine und Europas unter NS-deutscher Regie geschah, ist bekannt. Gegenwartsmächtig wirkt dieses Mega-Trauma dauerhaft als Lehre in der jüdischen Welt sowie besonders in Israel: »Nie wieder Opfer!«, »Sicherheit und Freiheit!«. Konkret: Notfalls ist die Anwendung von Gewalt sowohl reaktiv als auch präventiv gerechtfertigt.

missverständnis Viele außerhalb der jüdischen Welt missverstehen diese historisch und psychologisch nachvollziehbare Lehre total. Die einen behaupten, Israel verhalte sich den Palästinensern und seinen anderen Nachbarn gegenüber »wie die Nazis«, andere sprechen von »Apartheid« und wissen offenbar nicht, dass besonders viele Juden seinerzeit in Südafrika zum aktiven Widerstand gegen das Apartheid-Regime gehörten. Opfer und Täter werden aus Ignoranz und giftiger Ideologie vertauscht.

Diese Welt steht moralisch auf dem Kopf und ist dabei alles andere als kopf- oder fantasielos. Russlands Präsident Putin ergänzte vor seinem Angriff auf die Ukraine diesen Zynismus um eine neue Variation: Er wolle die Ukraine »entnazifizieren« und meint damit: vom »jüdischen Nazi« und seiner »Clique«. Diese Ungeheuerlichkeit ist keineswegs kopflos, stellt aber die Fundamentalethik von den Füßen auf den Kopf.

Aus dem Weltbrand seit 1938 hat Putin gelernt: Je brutaler man verbal und vor allem militärisch der freien Welt gegenüber auftritt, desto erfolgreicher ist man. Ohne echtes Risiko. Westliches Appeasement 1938 gegenüber Hitler, westliches Appeasement 2022 gegenüber Putin. Am 26. und 27. Februar schaltete der Westen um: Aufrüstung. Putin reagierte mit der atomaren Drohung. Er wird keinen Selbstmord riskieren.

MEMORANDUM 1994 rüstete die Ukraine nuklear ab. Im Gegenzug verpflichteten sich Russland, die USA sowie das Vereinigte Königreich im »Budapester Memorandum«, die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine zu achten. Dass Russland vertragsbrüchig wurde, war seit 2014 klar. Die Krim wurde annektiert und faktisch auch Teile der Ostukraine.

Nun also, wie weiland 1939 die »Rest-Tschechei« durch Hitler, die Rest-Ukraine durch Putin. Dabei wurde weder 2014 noch jetzt diese Fundamentalfrage nicht einmal gestellt: Wären die USA und Großbritannien durch das Budapester Memorandum nicht völkerrechtlich verpflichtet, dem Nicht-NATO-Mitglied notfalls militärisch beizustehen?

2004 hatte der libysche Diktator Gaddafi auf Nuklearwaffen verzichtet – und damit seinen Untergang, der 2011 erfolgte, selbst ausgelöst. Ähnlich ergeht es 2022 als Folge von Budapest 1994 der Ukraine, und gleichzeitig sei, hört man, die Erneuerung des Atomabkommens mit dem Iran unterschriftsreif.

islamisten Folge eins: Welcher Tor glaubt nun, nach 2004 und 2014/2022, immer noch daran, dass die Islamisten in Teheran wirklich auf die Nuklearisierung ihres Militärs verzichten werden? Folge zwei, aus Folge eins abgeleitet: Wer glaubt noch daran, dass Israel »mit verschränkten Armen« dabei herumstehen werde? Brüder, es brennt bald noch mehr. Die Schuld daran tragen die USA und (!) Russland, China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland als Signatarstaaten des Iran-Abkommens. Appeasement fördert Krieg. China versteht es bestens. Folge drei: Über kurz oder lang wird China Taiwan militärisch »schlucken«.

Appeasement fördert Krieg. China versteht das bestens.

Belarus und Kasachstan sind bereits Satelliten Russlands, Armenien eher mehr als weniger, und Georgien wurde 2008 strategisch durch Russland geschwächt. Mit Ausnahme der drei baltischen Staaten, die den NATO-Schutzschirm genießen, ist damit zu rechnen, dass mittel- oder langfristig alle ehemaligen Sowjetrepubliken »heim ins Reich« Russlands gelangen. Wie glaubwürdig ist der NATO-Schutzschirm für das Baltikum oder auch Polen, das zum Zarenreich gehörte?

MAXIME »Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate.« Dieser Richtlinie gemäß stieg Habsburg unter Kaiserin Maria Theresia zur Großmacht auf. Die Bundesrepublik Deutschland aktualisierte seit den 70er-Jahren jene Maxime der Sowjetunion, dann Russland sowie der Volksrepublik China gegenüber. Etwa so: Die anderen, vor allem die USA, schützen uns, wir treten ihnen ans Schienbein, verringern noch mehr unsere Verteidigungsfähigkeit, treiben unter diesem Schutzschirm auf ihre Kosten Handel und verdienen (Blut-)Geld. US-Präsident Trump handelte oft boshaft, verrückt und inakzeptabel, aber hatte er unrecht, dass er jene deutsche Maxime erkannte, benannte und bekämpfte?

»Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen« soll Lenin, der Vater der Sowjetunion, gesagt haben. Die Authentizität dieses Zitates ist umstritten, doch die Charakterisierung der Kapitalisten beziehungsweise Wirtschaftsmanager und westlicher Politiker stimmt.

Wir verkaufen Russland und China nicht nur Waren für Milliarden, sondern produzieren bei und mit ihnen, sodass sie unser Wissen bekommen und, wie vor allem China, vervollkommnen. Sie können dadurch inzwischen vieles besser als wir. Die bisherige Wirtschaftspolitik gegenüber Russland und China macht nicht diese beiden Staaten von uns, sondern uns von ihnen abhängig.

SZENARIEN Wie geht es weiter in, um und mit der Ukraine? Nach dem »Siegfrieden« Russlands, formal oder nicht, werden Ukrainer einen langen Guerillakrieg gegen Russland führen. Dabei wird es auch zu Gewalt gegen russisches Zivil (»Terror«) in Russland kommen. Dieser Doppelkrieg aus Guerilla und Terror gegen und in Russland wird Putin & Co. kostspielig an Menschen und Material. Diese Tatsache sowie westliche Sanktionen werden die russische Bevölkerung hart treffen. Mehr und mutiger denn je werden sie ihren Unmut gegen das Putin-Regime bekunden. Die Folge: noch mehr Unterdrückung.

Und dann? Entweder Total-Unterdrückung oder ziviler Ungehorsam ohne Gewalt oder Bürgerkrieg. Eine Alternative ist alles andere als unwahrscheinlich. Diese: Die westlichen Gesellschaften, allen voran die deutsche, mucken gegen die Russland auferlegten Sanktionen auf. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes nicht bereit, den Preis der Freiheit, sprich: der Sanktionen zu zahlen.

Dem Druck der westlichen Stimmung und Straße werden die westlichen Politiker nachgeben und die Sanktionen widerrufen. Putin bekäme wieder (Blut-)Geld, das die eigene Bevölkerung beruhigt. Sterben für die Ukraine? Nein danke! Aber: Wird die russische Gesellschaft auf Dauer durch ukrainische Guerilla getötete Soldaten, Gewalt und Sabotage in und gegen Russland stillschweigend hinnehmen? Nein. Was dann? Entweder verbrannte Erde in und gegen die Ukraine oder ein »irgendwie« für alle Seiten tragbarer Modus Vivendi, also ein Ende des Tötens und vielleicht sogar Frieden.

ZAUBERFORMEL Die Zauberformel hierfür lautet: Frieden durch Föderalismus. Der Grundgedanke erkennt die Fakten an: Die Menschen im Osten der Ukraine sowie auf der Krim wollen eigentlich zu Russland, und wenn nicht zu Russland, dann innerhalb der Ukraine mehr Selbstbestimmung, zumindest jedoch in der Ukraine weniger Ukrainismus aus der Zentrale.

Daraus folgt: Die Ukraine müsste in eine »Bundesrepublik Ukraine« umgewandelt werden. Konkret: Der Osten des Landes sowie die Krim werden jeweils »Bundesländer«. Es gäbe dann einen von allen Bürgern gewählten Bundestag sowie einen Bundesrat, in den die Bundesländer Vertreter entsenden. In staatlichen Kernfragen bedarf es der Zustimmung beider Teilparlamente. So funktioniert Demokratie. Anders geht es nicht.

Am 26. und 27. Februar schaltete der Westen um. Putin reagierte mit der atomaren Drohung.

So viel zur mittel- und langfristigen Pers­pektive. Einstweilen bietet sich dieses für die freie Welt düstere Bild: Energie- und damit wohlstandspolitisch hängen wir von Russland ab. Unabhängig von den ukrainischen Flüchtlingen, denen unbedingt zu helfen ist, auch migrationspolitisch, denn: Putins Söldner mischen in Regionen mit, in denen Migrationsströme so oder anders gesteuert werden: Syrien, Libyen und die Sahelzone. Ein sorgenvoller Blick auf Nordamerika: Kuba, Nicaragua und Venezuela sind bereit, Russland Militärbasen zuzugestehen. Im Vorhof der USA.

Nach Afghanistan 2021 ist 2022 die Außen- und Sicherheitspolitik der freien Welt ein Trümmerhaufen. Eine Tragödie, denn die Ursache ist so wunderbar sympathisch, nämlich die einseitige Betonung der Freiheit. Doch ohne Sicherheit keine Freiheit. Gesucht sind fähige Analysten und in Behörden keine Laienspieler wie der BND-Chef, der von Putins Angriff in der Ukraine übertölpelt wurde. Vor allem brauchen wir Politiker, die Freiheit und Sicherheit durch Taten bezeugen.

Der Autor ist Historiker und »Hochschullehrer des Jahres 2017«. Im April erscheint von ihm »Eine andere Jüdische Weltgeschichte«.

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