Befreit

Hoffnung, was sonst?

Den 8. Mai 1945 erlebte ich in Buchenwald. Ich war 16 Jahre alt. Vier Wochen zuvor, am 11. April, hatte die US-Army das Konzentrationslager befreit. Für uns Überlebende war dieser Tag noch wichtiger als das Kriegsende. Er war im wahrsten Sinne des Wortes lebensentscheidend. Erst später begriffen wir, dass wir am 8. Mai Zeugen eines historischen Ereignisses gewesen waren, das die Geschichte künftiger Generationen prägen würde.

nichts gelernt Das Ende des Krieges und die Befreiung gingen weltweit einher mit großen Hoffnungen. Die größten davon haben sich leider nicht erfüllt. Vor drei Jahren sprach ich vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Meinen Vortrag hatte ich betitelt »Wird die Welt je lernen?« Ich kam zu dem Schluss, dass die Welt nicht gelernt hatte. Wäre es anders gewesen, hätte es kein Ruanda, kein Kambodscha, kein Darfur gegeben.

Auf der anderen Seite darf man nicht übersehen, dass es seit dem 8. Mai 1945 große Veränderungen zum Besseren gegeben hat. Die totalitären Systeme, die das 20. Jahrhundert zum grausamsten der Weltgeschichte gemacht haben, zum Jahrhundert von Auschwitz, gibt es nicht mehr. Der Faschismus ist verschwunden, der Nazismus in Schande untergegangen, der Kommunismus ist zusammengebrochen. Kolonialismus ist nur noch Geschichte, Rassismus – zumindest in den Vereinigten Staaten – verboten.

Es hat sich vieles gewandelt. Aber die Menschen haben immer noch nicht gelernt, in Frieden miteinander zu leben. Umso wichtiger ist es, dass wir weiterhin die Stimme erheben gegen Gewalt, gegen Fanatismus, gegen mörderische Ideologien. Wir Überlebende müssen immer wieder sagen: Schaut uns an, lernt aus unseren Erfahrungen!

Zu den wichtigen Veränderungen nach 1945 gehört auch, dass nur drei Jahre nach dem Ende dessen, was mit den Begriffen »Schoa« oder »Holocaust« unzureichend benannt ist, ein jüdischer Staat entstand. Ein großer Moment, bis heute. Die Geburt Israels war eine Antwort auf unsere größten Hoffnungen. Leider haben sich auch diese nicht vollkommen erfüllt. Seit 62 Jahren kann der jüdische Staat nicht in Frieden leben. Der Nahostkonflikt ist mittlerweile der am längsten andauernde Kon- flikt weltweit. Das ist nicht Israels Schuld.

Hamas Fünf israelische Ministerpräsidenten haben sich für eine Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen. Und ich glaube, dass es früher oder später dazu auch kommen wird. Aber derzeit ist der eine potenzielle Friedenspartner auf palästinensischer Seite zu schwach. Und die Hamas will keinen Frieden. In Artikel 8 ihrer Charta heißt es »Tötet die Juden!«. Und die Hamas ist nicht nur in Gaza stark.

Eine der Lehren, die vor 65 Jahren aus dem Massenmord an den europäischen Juden gezogen wurde, lautete: »Nie wieder«. Nie wieder sollte das jüdische Volk solchen Vernichtungsplänen ausgesetzt sein. Aber nicht nur das jüdische Volk. Nie wieder sollten Menschen Opfer von Massenmord werden. Nie wieder sollten Kinder Hungers sterben. Nie wieder sollte Hass obsiegen. Nie wieder sollten Fanatiker an die Macht kommen. Und nie wieder sollten Menschen massenhaft derartige Erniedrigung erdulden müssen. »Nie wieder«, das betraf und betrifft nicht nur das jüdische Volk, sondern die gesamte Menschheit.

iran Wer heute »Nie wieder« sagt, darf den Iran nicht übersehen. Dessen Präsident Ahmadinedschad, der nur dank Wahlbetrugs an der Macht ist, behauptet, den Massenmord an den Juden habe es nicht gegeben. Gleichzeitig kündigt er seinen eigenen Holocaust an, die nukleare Vernichtung Israels. Und die zivilisierte Welt weist ihn nicht in die Schranken. Wann endlich wird sie ihre moralische und ökonomische Macht einsetzen, um Ahmadinedschad zu stoppen? Auch das zeigt, dass unsere Hoffnungen, die wir vor 65 Jahren hatten, nicht erfüllt worden sind.

Dennoch dürfen wir diese Hoffnungen nicht ad acta legen. Aufzugeben ist keine Option. Wenn wir aufgeben, hat die Gegenseite gewonnen. Wir müssen weiter an die Menschheit glauben. Wir müssen weiter an die Zukunft glauben, gleichgültig, wie sie wird und trotz der Vergangenheit. Wir haben kein Recht zu verzweifeln. Schon der Kinder von heute wegen. Ihnen müssen wir Hoffnung geben, ihretwegen müssen wir uns Hoffnung machen. Es gilt, was Albert Camus schrieb: »Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.« Auch, wenn er es nicht war, man muss ihn sich so vorstellen. Man muss hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Und alles tun, um unsere Hoffnungen wahr werden zu lassen.

Der Autor, 1928 in Rumänien geboren, ist Friedensnobelpreisträger und lebt als Schriftsteller (»Die Nacht«) in den USA.

Medien

Merz: Habe mich mit Begriff Staatsräson immer schwergetan

Den Begriff in Bezug auf das deutsche Verhältnis zu Israel hat die damalige Kanzlerin Angela Merkel geprägt. Ihr Nachfolger erklärt nun, wie er dazu steht

 18.10.2025

Israel

Warum ich meine gelbe Schleife nicht ablege

Noch immer konnten nicht alle Angehörigen von Geiseln Abschied von ihren Liebsten nehmen

von Sophie Albers Ben Chamo  17.10.2025

Tel Aviv/Birmingham

Ex-Geisel zu Ausschluss von Maccabi-Fans: »Schämt euch!«

Emily Damari kritisiert den Ausschluss von Fans des Fußballvereins Maccabi Tel Aviv vom Europacupspiel bei Aston Villa. Sie spricht von einer »unerhörten Entscheidung«

 17.10.2025

Berlin/Ankara

Wadephul setzt auf Wiederannäherung von Türkei und Israel

Der deutsche Außenminister ist zum Antrittsbesuch in Ankara eingetroffen. Er sieht sich in einer Rolle der klassischen Diplomatie. Das gilt auch für das schwierige Verhältnis des Gastgebers zum jüdischen Staat

 17.10.2025

Meinung

Das moralische Versagen der Linken

Wenn Antisemitismus offen auf der Straße marschiert, dann hört man aus den linken Reihen: nichts.

von Nicole Dreyfus  17.10.2025

München

Wegen »Hitlergruß«-Collage: AfD-Mann Bystron verurteilt

Der Politiker teilt eine Fotomontage in sozialen Medien. Zu sehen: unter anderem Angela Merkel mit erhobenem Arm und ausgestreckter Hand

 17.10.2025

New York

Bürgermeisterkandidat bezichtigt Israel eines Völkermords

Der Demokrat Zohran Mamdani will das Land außerdem »nicht als jüdischen Staat« anerkennen

 17.10.2025

Interview

»Völkermörder!«: Nach dem Linken-Eklat in Neukölln - Jetzt spricht Bat Yams Bürgermeister

Bat Yams Bürgermeister Tzvika Brot wurde bei einem Besuch in Berlin-Neukölln von Fraktionschef der Linkspartei als Völkermörder beschimpft. Im Interview spricht er über den Vorfall und die Zusammenarbeit zwischen deutschen und israelischen Kommunen

von Detlef David Kauschke  17.10.2025

Reisen

Israelischer Reisepass verliert an Wert

Visafrei können Israelis in nur noch 165 Staaten der Welt reisen. Wie sieht es mit den Inhabern deutscher Pässe aus?

 17.10.2025