MEINUNG

Hitler mit Fußnoten

Als die Alliierten im Nachkriegsdeutschland eine neue demokratische Presse schufen, musste zunächst das alte Gedankengut symbolisch zerstört werden. Nichts zeigt dies besser als die erste Druckplatte der seit Oktober 1945 erscheinenden Süddeutschen Zeitung, die angeblich aus dem eingeschmolzenen Bleisatz von Hitlers Mein Kampf hergestellt wurde. Der »Bestseller« wurde nach 1945 zumindest in deutscher Sprache zu einem verbotenen Buch. Dafür sorgte der Freistaat Bayern, der das Erbe des NSDAP-Verlags Franz Eher Nachf. antrat.

neuausgabe 70 Jahre später, mit Ende des Jahres 2015, verfallen diese Urheberrechte. Soll man an der Tabuisierung der Hetzschrift weiter festhalten? Bereits in den 50er-Jahren forderte Bundespräsident Theodor Heuss eine wissenschaftlich-kritische Neuausgabe. Damals gab es gute Gründe dagegen: Zu frisch war die Erinnerung, zu groß die Gefahr einer Kultedition durch alte und neue Nazis, zu wichtig war damals ein symbolisches Verbot.

An der heutigen Debatte über eine Neuausgabe ist eigentlich nur noch interessant, dass es im Grunde genommen gar keine Debatte mehr gibt. Wer will, kann sich das Machwerk längst kostenlos aus dem Internet herunterladen. Heute geht es nur darum, in welcher Form Mein Kampf zukünftig zu lesen sein wird. Dabei ist darauf zu achten, dass eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe auf den Markt kommt, bevor Privatunternehmer aus der Tabuisierung der Schrift schnell noch Profit erzielen. Zu Recht hat die bayerische Regierung vor Kurzem verhindert, dass ein britischer Verleger das Buch am Zeitungskiosk verkaufen ließ. Das renommierte Institut für Zeitgeschichte hat sich des Projekts einer kritischen Ausgabe angenommen und erhält dafür breite Unterstützung.

wissenschaftlich Im Internetzeitalter gibt es keine Möglichkeit mehr, die Verbreitung von Hetzschriften zu verhindern. Es kann jetzt nur darum gehen, dass möglichst rasch eine historisch fundierte wissenschaftliche Ausgabe, die auch ein nichtakademisch geschultes Publikum lesen kann, vorliegt. Wichtiger als die Buchausgabe wird es sein, das Internetmonopol der fragwürdigen Anbieter aus der rechtsextremen Ecke zu brechen.

Doch müssen wir uns über eines klar sein: Der Erfolg oder Misserfolg der rechtsextremen Rattenfänger heute wird genauso wenig von der Lektüre von Mein Kampf abhängen wie der Erfolg Hitlers vor 80 Jahren.

Der Autor ist Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Essay

Ausweg Palästina

Große Teile der Linken sind mit der Komplexität der Gegenwart überfordert. Orientierung suchen sie ausgerechnet im Hass auf den jüdischen Staat. Mit progressiver Politik hat das wenig zu tun

von Jessica Ramczik, Monty Ott  13.09.2025

Sachsenhausen

120 Minuten Holocaust

Angesichts des grassierenden Antisemitismus sollen Schüler zum Besuch einer NS-Gedenkstätte verpflichtet werden. Doch was kann eine Führung vor Ort tatsächlich bewirken?

von Mascha Malburg  13.09.2025

Brüssel

»Gegen EU-Grundwerte«: Kommission verurteilt Festival

Eine Sprecherin der Europäischen Kommission hat den Boykott der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani in die Nähe von Antisemitismus gerückt und scharf verurteilt

von Michael Thaidigsmann  12.09.2025

Belgien

»Ruf unseres Landes beschmutzt«: Premier rügt Gent-Festival

Premier Bart de Wever kritisiert die Leiter eines belgischen Festivals dafür, die Münchner Philharmoniker und ihren Dirigent Lahav Shani ausgeladen zu haben

 12.09.2025

Berlin

Humboldt-Universität will gegen Antisemitismus vorgehen

Präsidentin Julia von Blumenthal sieht ihre Hochschule für künftige Auseinandersetzungen rund um den Nahost-Konflikt gut vorbereitet

von Lukas Philippi  12.09.2025

Kommentar

Die Genozid-Lüge

Wie die Hamas nach dem 7. Oktober vom Täter zum Opfer wurde – und Israel zur Verkörperung des Bösen schlechthin

von Stephan Lehnstaedt  12.09.2025

Nachkriegsjustiz

Verhandlung über Massenmord: Vor 80 Jahren begann der Belsen-Prozess

Fünf Monate nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen erhob ein britisches Militärgericht in Lüneburg Anklage gegen die Täter. In einer Turnhalle begann damit vor 80 Jahren der erste große NS-Kriegsverbrecherprozess in Deutschland

von Karen Miether  12.09.2025

Belgien

Deutsche Botschaft beendet Partnerschaft mit Gent-Festival

Die Deutsche Botschaft in Brüssel hat nach der Ausladung der Münchner Philharmoniker ihre Zusammenarbeit mit dem Flandern-Festival in Gent eingestellt

von Michael Thaidigsmann  11.09.2025

Debatte

Zentralrat: Ausladung Shanis ist »fatales Signal«

Wer einen Künstler aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder seiner jüdischen Religion ausgrenzt und diskreditiert, trete die Demokratie mit Füßen

 11.09.2025