Internet

Geteilter Hass

Pogromstimmung per Klick: Extremisten missbrauchen die Netzwerke. Foto: Thinkstock, (M) Marco Limberg

Der Pariser Vorort Bobigny, am 24. Juli 2014 – auf dem Höhepunkt des Gazakrieges. 18 Jugendliche, einige von ihnen mit Eisenstangen bewaffnet, versammeln sich vor einem Häuserblock. Sie lauern ihrem Opfer auf. Als der junge Mann seine Wohnung verlässt, umringen und bedrohen sie ihn. Dann die Frage: »Dein Foto kennen wir doch von Facebook?«

Kurz zuvor war im Internet die Gruppe »Junge Französische Revolutionäre – JRF« aufgetaucht. Einziger Sinn und Zweck der Facebook-Seite: französische Juden zu denunzieren. Insgesamt 32 Fotos, Namen und Adressen hatten die Betreiber innerhalb weniger Tage in den sozialen Netzwerken gesammelt und veröffentlicht. Familienväter und Teenager, einige mit Kippa und Tefillin, andere im T-Shirt oder mit Freundin im Arm. Der junge Mann aus Bobigny ist einer von ihnen. Über die Bilder schrieben die Administratoren zynisch: »Lacht – wir haben euch erwischt.« 1500 Menschen klickten »gefällt mir«.

mob Auch der Mob in Bobigny kannte die Adresse und den Namen seines Opfers von der Seite der »Jungen Französischen Revolutionäre«. Und nur, weil zufällig ein anderer Hausbewohner auftauchte und die Angreifer kurz ablenkte, konnte sich der junge Jude in letzter Sekunde zurück in seine Wohnung retten.

Der Fall zeigt, wie schnell virtueller Hass brutale Realität werden kann. Wie schnell auf Antisemitismus in sozialen Netzwerken echte Gewalt auf der Straße folgt. Und das Internet ist voll mit Hassbotschaften, kranken Bildmotiven und wüsten Beschimpfungen auf Deutsch, Arabisch oder Englisch. Ein paar Beispiele aus den vergangenen Tagen gefällig?

»Juden sind Ungläubige, müssen im Einklang mit den Menschenrechten getötet werden«, schreibt Cumali auf seinem öffentlich zugänglichen Facebook-Profil. »Ich möchte kleine Juden verbrennen«, schreibt Ryad in seinem Twitter-Account. Und die Facebook-Gruppen »Death to Israel« oder »Death to Zionists« haben bis heute mehrere Hundert Mitglieder.

verhaltensregeln Ein Blick in die Verhaltensregeln von Facebook zeigt, dass es diese Hassbotschaften eigentlich nicht geben dürfte. So stellt das Unternehmen klar, dass es den Nutzern nicht erlaubt sei, »andere aufgrund ihrer Rasse, Volkszugehörigkeit, nationalen Herkunft, Religion, (...) anzugreifen«. Trotzdem geschieht genau dies – jeden Tag.

Was kann man dagegen tun? Das Unternehmen bietet die Möglichkeit, anstößige Kommentare und antisemitische Drohungen zu melden. Facebook-Sprecher haben in diversen Interviews mit deutschen Medien auch immer wieder betont, dass diese Postings dann umgehend gelöscht würden. Doch die Realität sieht leider anders aus. Jeder, der schon einmal eine dieser Hassbotschaften gemeldet hat, kennt die standardisierte Antwort des Unternehmens (»Der Beitrag wurde zur Überprüfung eingereicht«). Und danach geschieht in den meisten Fällen: nichts.

Dabei ist es technisch überhaupt kein Problem, unerwünschte Beiträge zu filtern und direkt zu löschen. Schon lange nutzen Verlage spezielle Programme, um die Leserkommentare unter ihren Online-Artikeln noch vor Veröffentlichung zu überprüfen. Tauchen dann in den Beiträgen Wörter oder Formulierungen auf, die zuvor von den Betreibern in einer »Blacklist« gespeichert wurden – zum Beispiel »Judenschwein« oder »Auschwitzkeule« –, werden diese Kommentare direkt blockiert und erscheinen erst gar nicht auf der Seite.

gericht Auch Facebook hat bereits bewiesen, dass es durchaus in der Lage ist, schnell und konsequent zu sperren. Das jüngste Beispiel ist nur wenige Tage alt und stammt ausgerechnet aus der Türkei. Hier hatte ein Gericht Facebook dazu aufgefordert, Seiten und Meldungen zu blockieren, die den Propheten Mohammed beleidigen. Werde dies nicht umgesetzt, würde man, so die Behörden, den Zugang zu dem sozialen Netzwerk insgesamt sperren. Prompt waren die Karikaturen der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« für die türkischen User nicht mehr zu sehen.

Eine Ausnahme? Keineswegs. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2014 sperrte Facebook in der Türkei insgesamt 1893 Inhalte, 1773 in Pakistan und in Indien sogar 4960. So weist es das Unternehmen auf einer eigenen Transparenzseite selbst aus.
Wenn es also nicht an den technischen Anforderungen scheitert – woran liegt es dann, dass es auf Facebook, Twitter & Co. immer noch von antisemitischen Hasseinträgen wimmelt? Vielleicht am Unwillen der Unternehmen? Was hindert? Die Angst etwa, in bestimmten Regionen der Welt zukünftig als zu »judenfreundlich«, als US- und israelgesteuert zu gelten? Oder ist es die Furcht davor, User und Reichweite zu verlieren – und damit auch Einnahmen aus Werbeschaltungen?

gleichgesinnte
Nach den Anschlägen auf den jüdischen Supermarkt in Paris, dem Attentat auf das jüdische Museum in Brüssel und den gewalttätigen Demonstrationen während des jüngsten Gazakrieges ist ein entschiedenes Auftreten gegen jede antisemitische Gewaltdrohung zwingend notwendig – gerade in den sozialen Netzwerken, wo die Terroristen von morgen Gleichgesinnte finden und einander radikalisieren.

Wo sich die Betreiber von Facebook, Twitter oder YouTube weigern, Verhaltensregeln durchzusetzen und judenfeindliche Hetze zu unterbinden, muss der Gesetzgeber tätig werden. Mit schärferen Regelungen, zum Beispiel auf europäischer Ebene. So forderte es in der vergangenen Woche der französische Präsident François Hollande. Denn die großen Anbieter im Internet, so Hollande, »können nicht länger ihre Augen verschließen, wenn sie nicht als Mittäter betrachtet werden wollen«.

Der Autor ist Reporter im Nachrichten-Ressort der BILD-Zeitung.

9. November

Erinnerung ohne Empathie ist leer

Wenn Deutschland am Sonntag der Pogromnacht gedenkt, darf Erinnerung nicht nur rückwärtsgewandt sein. Sie muss auch die Angst der Juden von heute im Blick haben

von Tobias Kühn  08.11.2025

Urteil

Betätigungsverbot für israelfeindlichen Aktivisten war rechtswidrig

Ghassan Abu-Sittah, der der israelischen Armee vorwirft, vorsätzlich Kinder zu töten, hätte auf dem »Palästina-Kongress« sprechen dürfen

 08.11.2025

Meinung

Wieder ein Milliarden-Blankoscheck für Palästina?

Europa will den Wiederaufbau Gazas mit 1,6 Milliarden Euro fördern. Glaubt man in Brüssel wirklich, durch Scheckbuchdiplomatie etwas zum Besseren verändern zu können?

von Jacques Abramowicz  08.11.2025

Jerusalem

Bischof Azar bedauert Irritation durch »Völkermord«-Äußerung

Weil er in einem Gottesdienst in Jerusalem von »Völkermord« an den Palästinensern sprach, hat der palästinensische Bischof Azar für Empörung gesorgt. Nun bedauert er, dass seine Worte Irritation ausgelöst haben

von Christine Süß-Demuth  07.11.2025

Berlin

Israelfeindliche Aktivisten besetzen ZDF-Hauptstadtstudio

Die Polizei musste die Besetzung beenden

 07.11.2025

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Berlin

Sarah Wedl-Wilson räumt Defizite bei Fördermittel-Vergabe ein

Wurden Gelder für Projekte gegen Antisemitismus rechtswidrig verteilt? Das werfen Grüne und Linke der Kultursenatorin vor. Nun äußert sie sich

 07.11.2025

Diplomatie

Kasachstan will sich den Abraham-Abkommen anschließen

US-Präsident Donald Trump kündigte den Schritt wenige Tage vor dem Besuch des saudischen Kronprinzen im Weißen Haus. Auch Saudi-Arabien solle seine Beziehungen zu Israel normalisieren, so die Hoffnung des US-Präsidenten

 07.11.2025

Antiisraelischer Beschluss

Linken-Spitze distanziert sich von Parteijugend

Die Linksjugend Solid wirft Israel unter anderem einen »kolonialen und rassistischen Charakter« vor – und löst in der Partei Empörung aus

 06.11.2025