NS-Vergangenheit

Geschichte gelöscht

Reinhard Gehlen in seinem Arbeitszimmer. Er war von 1956 bis 1968 erster Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Foto: dpa

Kaum hat die Unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (BND) ihre Arbeit aufgenommen, da stößt sie bereits auf Hindernisse. Die Zusicherung des deutschen Auslandsgeheimdienstes, in alle vorhandenen Materialien unbeschränkt Einsicht nehmen zu können, erweist sich als fragwürdig: Die Unterlagen sind gesäubert.

Wie die Wissenschaftler jetzt feststellen mussten, wurde zuletzt 2007 brisantes Material beseitigt: Der BND entsorgte insgesamt 253 Personalakten, darunter rund 60 von ehemaligen Mitarbeitern, die nach Angaben des Kommissionssprechers Klaus-Dietmar Henke »in signifikanten geheimdienstlichen Positionen in der SS, dem SD oder der Gestapo tätig gewesen sind«.

Der BND bestätigt den Vorgang. Die Akten seien »seinerzeit als nicht archivwürdig eingestuft« worden, heißt es. »Aus heutiger historiografischer Sicht ist der Bestandsverlust gleichwohl bedauerlich und ärgerlich.« Platzmangel soll der Grund für die skandalöse Aktion gewesen sein. Allerdings ist das kein Einzelfall. »Was wir sicher wissen, ist, dass der BND die ganzen Jahrzehnte über immer wieder Aktenverluste beklagen musste, warum auch immer«, sagte der Dresdner Historiker Henke.

brunner Erst im Sommer dieses Jahres kam heraus, dass der BND Mitte der 90er-Jahre die Akte des SS-Verbrechers Alois Brunner getilgt hatte. 581 Seiten verschwanden über jenen Österreicher, der als Adolf Eichmanns »bester Mann« mitverantwortlich war für die Deportation von rund 128.500 Juden. Nach wie vor besteht der Verdacht, dass Brunner, der Mitte der 50er-Jahre in Syrien untertauchte, zumindest zeitweilig auf der Soldliste des BND stand. Besonders abwegig wäre das nicht: Schließlich arbeiteten auch Klaus Barbie, der »Schlächter von Lyon«, oder SS-Standartenführer Walther Rauff, der Erfinder des »Gaswagens«, nach dem Krieg gegen Bezahlung für den Dienst. Rauffs Tätigkeit für den BND musste Pullach Mitte September einräumen.

Hervorgegangen ist der BND 1956 aus der »Organisation Gehlen«, benannt nach dem früheren Leiter der Aufklärungsabteilung »Fremde Heere Ost« der Wehrmacht, Reinhard Gehlen. Nach einer Anfang der 50er-Jahre durchgeführten Untersuchung der CIA hatten bis zu 28 Prozent der Mitarbeiter des BND-Vorgängers der NSDAP angehört.

Anlässlich des 50-jährigen Bestehens 2006 hatte der damalige BND-Präsident Ernst Uhrlau angekündigt, die trübe Entstehungs- und Frühgeschichte des Diens-tes umfassend aufarbeiten zu lassen.

Ein erster Anlauf scheiterte jedoch 2008: Der von dem Sozialdemokraten Uhrlau beauftragte Erlanger Historiker Gregor Schöllgen gab entnervt auf, nachdem er sich mit BND und Kanzleramt weder über die personelle und finanzielle Ausstattung des Projekts noch über die zu erforschende Zeitspanne hatte verständigen können.

Seit Februar untersucht nun eine vierköpfige Historikerkommission die BND-Geschichte bis 1968. Neben Henke, der bereits die Untersuchung zum Raubgold der Dresdner Bank geleitet hat, gehören ihr der Marburger Geheimdienstspezialist Wolfgang Krieger, der Potsdamer Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller und der Kölner Außenpolitikexperte Jost Dülffer an. Ausgestattet ist das auf vier Jahre angelegte Projekt mit einem Finanzrahmen von bis zu 1,5 Millionen Euro. Unterstützt werden sollen die Wissenschaftler von einer BND-internen Arbeitsgruppe.

u-boote Dass der jetzt bekannt gewordene Aktenschwund politisch motiviert ist, daran wollen die Professoren nicht glauben. Er könne sich »bei aller Kritik nicht vorstellen, dass es im Jahre 2007 im BND noch irgendwelche U-Boote gab, die NS-Vergangenheit vertuschen wollten«, sagt Henke. Er glaube »eher, es war Sorglosigkeit oder Leichtfertigkeit«.

Bemerkenswert ist zumindest, dass die Kassation nur wenige Monate nach der Ankündigung Uhrlaus erfolgte, die braunen Wurzeln des Dienstes aufarbeiten zu lassen.

Wie viel die Öffentlichkeit von dem erfahren wird, was die Kommission herausfindet, ist unklar. Veröffentlicht werden darf nur, was der BND freigibt. Von seiner Seite aus seien »keinerlei Restriktionen« geplant, hatte Uhrlau versprochen. Doch es gibt Rücksicht auf Sicherheitsinteressen, die Belange von »Partnerdiensten« und Persönlichkeitsrechte. Am Mittwoch wurde Uhrlau in den Ruhestand verabschiedet. Es gibt Zweifel, ob auch sein Nachfolger Gerhard Schindler (FDP) sich mit der gleichen Verve um Transparenz bemühen wird.

Deutschland

»Völlige Schamlosigkeit«: Zentralrat der Juden kritisiert AfD-Spitzenkandidat für NS-Verharmlosung

Der AfD-Spitzenkandidat aus Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, äußert sich einschlägig in einem Podcast zur NS-Zeit

von Verena Schmitt-Roschmann  21.11.2025

München

»Wir verlieren die Hoheit über unsere Narrative«

Der Publizist und Psychologe Ahmad Mansour warnte in München vor Gefahren für die Demokratie - vor allem durch die sozialen Netzwerke

von Sabina Wolf  21.11.2025

Kommentar

Wenn Ideologen mehr zu wissen scheinen als Expertinnen

Der Antisemitismusbekämpfer und bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Martin Hikel, ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

Deutschland

»Hitler ist niedergekämpft worden. Unsere Städte mussten in Schutt und Asche gelegt werden, leider«

Militanter Linker, Turnschuhminister, Vizekanzler und Außenminister: Das sind die Stationen im Leben des Grünenpolitikers Joschka Fischer. Warum er heute vom CDU-Kanzler Konrad Adenauer ein anderes Bild als früher hat

von Barbara Just  21.11.2025

Berlin

Bundesinnenministerium wechselt Islamismusberater aus

Beraterkreis statt Task Force: Die schwarz-rote Bundesregierung setzt einen anderen Akzent gegen islamistischen Extremismus als die Ampel. Ein neues Expertengremium, zu dem auch Güner Balci gehören wird, soll zunächst einen Aktionsplan erarbeiten

von Alexander Riedel  21.11.2025

Glosse

Auf, auf zum bewaffneten Kampf!

Eine deutsche Komikerin wechselte am Wochenende wieder einmal das Genre. Enissa Amani versuchte allen Ernstes, rund 150 Berlinern zu erklären, dass Nelson Mandela das Vorgehen der Hamas gegen Israel gutgeheißen hätte

von Michael Thaidigsmann  21.11.2025 Aktualisiert

Vor 80 Jahren

Zentralrat der Juden: Nürnberger Prozesse waren Wendepunkt

Es waren hochrangige NS-Kriegsverbrecher, die vor 80 Jahren in Nürnberg vor Gericht standen. Was diese Prozesse aus Sicht des Zentralrats der Juden bedeuten - auch heute

von Leticia Witte  21.11.2025

Paris

EJC warnt vor wachsender Radikalisierung junger Menschen im Netz

»Hass ist viral gegangen«, sagt Moshe Kantor, der Präsident der Organisation

 21.11.2025