Der Zentralrat der Juden in Deutschland steht vor einem bedeutenden Führungswechsel. Nach einem Treffen des Direktoriums und des Präsidiums am Sonntag in Frankfurt am Main hat Präsidentin Charlotte Knobloch angekündigt, bei der turnusmäßigen Neuwahl im November nicht für eine zweite Amtszeit zur Verfügung zu stehen. Sie werde so bewusst einen Generationswechsel herbeiführen und diesen aktiv begleiten, heißt es in einer Erklärung (vgl. Infokasten). In einem Interview mit der ARD betonte Knobloch, für sie habe schon länger festgestanden, zum gegebenen Zeitpunkt einem Jüngeren Platz zu machen.
Entscheidung Zuvor hatte es Gerüchte über ein vorzeitiges Ausscheiden der 77-Jährigen gegeben. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Lala Süsskind, bedauerte diese Spekulationen. »Frau Knobloch ist aktiv an dem Generationswechsel beteiligt. Ich begrüße es, dass sie so gelassen und positiv mit ihrer Entscheidung umgeht.« Süsskinds Präsidiumskollege Johann Schwarz äußerte sich ähnlich: »Ich finde es wichtig, dass es den Generationswechsel im Zentralrat gibt. Frau Knobloch hat ihre Aufgabe vorzüglich wahrgenommen. Es ist ein nobler und kluger Zug von ihr, Jüngeren den Weg zu öffnen«, sagte der Vize-Vorsitzende des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein dieser Zeitung. Hans-Joachim Aris, 75-jähriges Präsidiumsmitglied aus Dresden, verwies darauf, dass es eine sinnvolle Symbiose zwischen Vergangenheit und zukunftsorientierter Arbeit geben müsse.
Knobloch steht seit 2006 an der Spitze des Zentralrats der Juden. Sie trat damals die Nachfolge des zuvor verstorbenen Präsidenten Paul Spiegel sel. A. an. Seit 1985 leitet sie die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern. Knobloch, 1932 in München geboren, überlebte die Schoa versteckt auf einem fränkischen Bauernhof. Bei ihren zahlreichen Auftritten in der Öffentlichkeit berichtete sie immer wieder authentisch über ihre Erlebnisse in der NS-Zeit. Wenn Knobloch im November wie vorgesehen aus dem Amt scheidet, bedeutet das eine historische Zäsur für den 1950 gegründeten Zentralrat der Juden. Denn: Aller Voraussicht nach wird die politische Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in Deutschland künftig von jemandem geführt, der den Holocaust nicht persönlich erlebt und erlitten hat.
Neuorientierung Als Knoblochs Nachfolger wird Vizepräsident Dieter Graumann gehandelt. Der in Israel geborene Unternehmer aus Frankfurt ist schon seit Jahren unter anderem für die Finanzen des Zentralrats zuständig, hat die Verhandlungen mit der Bundesregierung über die Neuregelung der Zuwanderung russischsprachiger Juden geführt und mit der Union Progressiver Juden Einvernehmen hergestellt. In der Frankfurter Gemeinde amtiert der 59-Jährige als Kultur- und Schuldezernent. Und er ist einer, der beim Zentralrat durchaus Bedarf für eine Neuorientierung sieht.
Bei einer Rede am 9. November in der Frankfurter Paulskirche anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht 1938 wies Graumann darauf hin, dass die politische Vertretung der Juden in Deutschland eines Tages ihre Rolle »offen, selbstkritisch und frisch« überdenken müsse: »Vom ewig ungeliebten Dauermahner und chronisch brummigen Dauerwarner zum putzmunteren Antreiber und Impulsgeber. Weniger sauertöpfische Übellaunigkeit und mehr frischer Einfallsreichtum; weniger oberlehrerhafte, moralinsauere Besserwisserei und mehr offener, aber auch kontroverser Dialog; weniger Empörungsmaschinerie, weniger Empörungsroutine und mehr quicklebendige Kreativität.«
Identität Dazu gehöre auch, dass sich das Selbstverständnis der Juden nicht allein auf Verfolgungsgeschichte und den Kampf gegen Antisemitismus gründen sollte. Schoa und Judenfeindschaft blieben selbstverständlich wichtige Themen. Aber beide dürften nicht zu einer »Ersatzidentität, schon gar nicht zur Ersatzreligion werden«. Graumann fügte hinzu: »Wir Juden sind eben nicht nur Opfer, sondern vor allem Träger einer außergewöhnlich wertvollen, kostbaren Religion, Tradition, Geschichte, Gedankenwelt und Kultur.«
Wer immer ab November die Geschicke des Zentralrats lenkt, wird aber nicht nur nach außen, sondern vor allem auch nach innen wirken müssen. Präsidiumsmitglied Johann Schwarz formuliert es so: »Ich wünsche mir Integrationskraft, die alle Schattierungen des Judentums miteinander vereint.« Eine echte Herausforderung.