Wenn Bürgermeisterin Christine Herntier von ihrem Schreibtisch in ihrem Dienstzimmer im Rathaus aufschaut, sieht sie den Spremberger Marktplatz, idyllisch umgeben von historischen Wohn-und Geschäftshäusern. »Hier habe ich alles im Blick. Ich sehe auch, wer unterwegs ist und welche Gruppen sich treffen.« Schwarz gekleidete Jugendliche »mit eindeutigem Erscheinungsbild« zum Beispiel, die durch ihr Auftreten andere Jugendliche, aber auch Besucher verunsichern.
Dass Rechtsextremismus in der Stadt ein Problem ist: Das hat Herntier im Sommer im städtischen Amtsblatt öffentlich ausgesprochen - und die Spremberger aufgefordert, dagegen aufzustehen und Gesicht zu zeigen. »Ein Weckruf sozusagen«, sagt die 68-Jährige. Für diesen Mut bekommt sie jetzt einen Preis: Der Förderkreis des »Denkmals für die ermordeten Juden Europas« und die Jüdische Gemeinde zu Berlin zeichnen sie aus. Die mit 2.000 Euro dotierte Ehrung - ein Preis für Zivilcourage und gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus - wird am Montag im Berliner Hotel Adlon verliehen.
Problem schon länger bekannt
»Mir war gar nicht bewusst, dass das bisher kein Bürgermeister und keine Bürgermeisterin so deutlich gesagt hat«, erzählt Herntier, eine resolut und ehrlich wirkende Frau, an diesem grauen Novembertag in ihrem Ratsbüro. Schließlich sei das Problem schon länger bekannt - auch aus umliegenden Orten wie etwa Lauchhammer oder Cottbus.
Ihre Flucht nach vorn habe nicht jedem gepasst - sie solle die Stadt nicht schlecht reden, hätten Bürger und brandenburgische Amtskollegen kritisiert. Aber sie bekam auch Zuspruch - etwa beim Warten in der Supermarktschlange: »Eine Verkäuferin zum Beispiel hat mir gesagt, dass es gut ist, dass ich das endlich offen gesagt habe, was für jeden offensichtlich ist.«
Die parteilose Bürgermeisterin ist neben ihren Amtsgeschäften auch der Kummerkasten des kleinen Orts mit rund 20.000 Einwohnern. Man kennt sich in dem zweisprachigen Städtchen, das auf Sorbisch »Grodk« heißt und sich selbst »Perle der Lausitz« nennt.
Von Rechtsextremen vor der Schule angesprochen
Einmal im Monat hält Herntier eine Sprechstunde ab, in der die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Anliegen direkt zu ihr kommen können. In einer solchen Sprechstunde im Sommer war es, als Schüler und Lehrer der beiden Oberschulen ihr berichteten: dass sie sich im Unterricht bedroht und belästigt fühlten von Schülern mit rechtsextremer Gesinnung. Dass sie vor der Schule angesprochen würden, von Mitgliedern des »Dritten Wegs«, die sie überreden wollten, doch mal zu den Jugendangeboten zu kommen - zum Wandern, zum gemeinsamen Sport. Gleichzeitig bekamen sie Flyer in die Hand gedrückt, in denen etwa von »Volkstod« oder »Ausländerghettos« die Rede war.
Herntier fackelte nicht lange; im nächsten Amtsblatt legte sie diese Darstellungen auf den Tisch. »Es ging ja nicht nur um die Schüler - sondern auch um Hakenkreuz-Schmiereien oder SS-Runen an öffentlichen Gebäuden, um Aufkleber mit rechtsextremen Sprüchen auf Laternenpfählen und allgemein um Verherrlichung von Adolf Hitler«, sagt sie.
Der »Dritte Weg« - eine Partei, die sich in Süddeutschland gegründet hat und jetzt auch in Ostdeutschland aktiv ist - hat Fachleuten zufolge ein »stark nationalistisch-völkisches Weltbild«. Der Verfassungsschutzbericht für Brandenburg nennt steigende Extremismus-Zahlen: Die Behörde erfasste im vergangenen Jahr 3.650 Rechtsextreme in dem Bundesland - fast 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Bei der Bundestagswahl im Februar dieses Jahres kam die AfD in Spremberg bei den Zweitstimmen auf 45,51 Prozent - weit vor CDU und SPD.
Auszeichnung auch für Bürgerinitiativen
Mit Herntier zusammen werden am 24. November zwei Bürgerinitiativen ausgezeichnet, die sich in der Stadt ebenfalls gegen Rechtsextremismus engagieren: »Man muss den Jugendlichen etwas anbieten«, sagen Pfarrerin Jette Förster und die pensionierte Schulleiterin Regine Branzke von der »AG Spurensuche« - Theater, Sport, Gemeindearbeit. Etwas anderes als die Versammlungen an der Bismarcksäule im Stadtpark, der als Treffpunkt der jungen Rechten gilt. »Wir Deutsche fürchten Gott - sonst nichts auf der Welt« steht da, ein Zitat Bismarcks von 1888.
In der AG Spurensuche recherchieren junge und ältere Menschen zusammen die Geschichte von Spremberg zur Nazizeit; 2022 wurde im Ort der erste Stolperstein verlegt - für die Jüdin Elfriede Rulla, die sich 1940 nach ihrer Festnahme auf der Polizeiwache selbst das Leben nahm. »So halten wir ihr Andenken wach«, sagt Jette Förster, die immer wieder auch ihre sonntägliche Predigt nutzt, um sich für Vielfalt auszusprechen.
Bei Krippenausstellung beschimpft
Dass ihr Einsatz nicht allen in der Stadt passt - diese Erfahrung hat auch Bianca Broda gemacht, in Spremberg aufgewachsen und Mitgründerin vom »Bündnis Unteilbar«. Sie erzählt, dass sie im vergangenen Jahr zur Weihnachtszeit, als sie die Pyramidenausstellung in der Kirche beaufsichtigte, von einer Besucherin wegen ihres Engagements gegen Rechtsextremismus beschimpft wurde.
Entsprechende Diskussionen durchzögen die Spremberger Familien, sagt Pfarrerin Förster. Sie schildert eine Begebenheit bei einem 80. Geburtstag, als eine Abiturientin das nationalistische Gerede nicht mehr aushielt - und im Kreis ihrer Verwandten Farbe gegen Rassismus bekannte.
Dass die Bürgermeisterin das Problem öffentlich beim Namen genannt hat, habe ihnen in ihrer Arbeit den Rücken gestärkt, betonen die engagierten Frauen. »Es ist unsere Chance, dass das jetzt ein öffentlicher Diskurs wird«, sagt Broda. Und Bürgermeisterin Herntier findet: »Der Preis gehört allen Sprembergern, die den Mund aufmachen.«