Corona-Proteste

Gefährliche Masse

Treppenstürmung: Eskalation am vergangenen Samstag am Reichstagsgebäude in Berlin Foto: Getty Images

Was sich am vergangenen Samstag unter dem Schriftzug »Dem deutschen Volke« abspielte, dürfte keine Überraschung gewesen sein. Es war wiederholt angekündigt worden. Selbst wenn man nicht in den einschlägigen Kanälen mitlas, konnte man es auch ohne geheimdienstliche Ausbildung wissen und ernst nehmen.

Man fantasierte dort von einem deutschen Äquivalent zum Sturm auf die Bastille und erträumte eine Machtübernahme, eine Revolution, einen Putsch gar. Während sich noch lustig gemacht wird über die Verschwörungsgläubigen, werden die Coronaleugner die rechten Strukturen darin und drum herum geflissentlich übersehen. Das rechte Auge hat nach wie vor reichlich Sehprobleme.

reichsflagge Nicht erst seit dem 29. August kennen wir das wöchentliche Schauspiel in Berlins Mitte: Bei den regelmäßig öffentlichen Treffen von Verschwörungsgläubigen, die sich in den letzten Wochen nicht nur in einen unerträglichen Antisemitismus verstiegen, gehört die Reichsflagge zum festen Repertoire.

Das rechte Auge hat nach wie vor reichlich Sehprobleme.

Sie ist das Gegenstück zur schwarz-rot-goldenen Fahne der Demokratie, die auch die Flagge der ersten deutschen Republik war. Sie wurde durch die Nationalsozialisten abgeschafft. Die Reichsflagge begleitete von da an das Hakenkreuz bis mindestens 1935 gleichberechtigt – bis Letzteres zur offiziellen Fahne wurde. Joseph Goebbels nannte die Flagge der Republik, die wir heute wieder führen, einen »Judenlappen«, die Weimarer Republik eine »Judenrepublik«.

Es ist nicht nur vor diesem Hintergrund keine harmlose Fahne, die an jedem Samstag hier in Berlin geschwenkt wird. Sie ist ein bewusst gewähltes Symbol, das im Gegensatz zum Hakenkreuz nicht verboten ist. Dennoch findet man auch das auf den Demonstrationen. Die Adaption von Symbolen der anwesenden Menschen macht auch nicht halt vor den gelben Sternen, den sogenannten Judensternen, die sie sich an die Brust heften.

weltbild Man wähnt sich ebenso verfolgt, wenn nicht noch mehr, wie einst die europäischen Juden. Man schreit »Wir sind das Volk« und fühlt sich in einem größeren Kampf als die Bürgerrechtler der DDR vor 1989. Sieht sich als Opfer, immer wieder als Opfer. Es wird passend gemacht, was nicht passt. Es wird adaptiert, was das Zeug hält, ein Weltbild wie eine Messiwohnung.

Die Treppenstürmung wird als Symbol überhöht. Die aufgeregte Berichterstattung, empörte reflexhafte Ansprachen von Politikern tun ihr Teil zur Bestätigung. Das Erklimmen einer Treppe, die zu einem der weltweit nahbarsten Parlamente der Welt gehört, wäre an anderen Tagen auch ohne Brimborium möglich gewesen. Die »Leistung« im Überwinden der Hamburger Gitter war letztlich die Teilnahme an einem polizeilich organisierten Hürdenlauf. Es ist allein drei Polizisten zu verdanken, dass der gewalttätige Mob aufgehalten wurde. Oder sollte man sagen: nur drei Polizisten?

Dass diese Aktion einige Menschen aufgeschreckt hat, ist gut.

Dass diese Aktion einige Menschen aufgeschreckt hat, ist gut. Dass sie allerdings mehr aufregt als eine menschenverachtende Partei, die sich seit 2017 mit 89 Abgeordneten einnistete und aus deren Jugendorganisation sich auch Treppenstürmer rekrutierten, ist der eigentlich erschütternde Fakt.

skandal Dass Antisemitismus, Rassismus, LGBTQ+- und Islamfeindlichkeit unübersehbar, nicht nur im Bundestag, zunehmen und in unserem Alltag nicht mit aller Härte bekämpft werden, ist der eigentliche Skandal. Wo sind also die viel berufenen 91 Prozent der Bevölkerung Deutschlands, die Umfragen zufolge diese Demonstrationen verurteilen? Wo sind sie?

Überraschend ist zudem das Erstaunen über die Mischung an Menschen, die man auf diesen Demonstrationen trifft. Die Zeit, in der man die neue Rechte an Springerstiefeln und kahlem Schädel erkennt, ist lange vorbei. Betrachtet man das Publikum, so sind es unsere Nachbarn, Kollegen, Familienangehörigen.

Was bleibt, ist ein Misstrauen, das Gefühl der Enttäuschung, stellt man fest, dass die gute Freundin »verloren« ist in die Welt, in der »der Jude« alles beherrscht und Bill Gates ihr einen Chip einpflanzen will.

antisemiten Wie kommt man zudem auf die Idee, dass man nicht rechts sei, wenn man mit Rechten marschiert? Fast vorbeugend wird das zu jeder Verschwörungsverkündigung oder Abwehr von Anti-Pandemie-Maßnahmen mitgegeben, ganz wie der Antisemit, der seine Ausführungen gern damit einleitet: »Ich bin ja kein Antisemit …« Doch was ist man sonst, wenn man mit Nazis, mit Faschisten marschiert? Wenn man sie durch ihre Anwesenheit unterstützt, sich gegenseitig stärkt und das Tun bejubelt? Was ist man?

Diese gefährliche Masse, die sich durch ihre Sammlungserlebnisse noch mehr bestärkt und verfestigt, sind Menschen wie du und ich.

Diese gefährliche Masse, die sich durch ihre Sammlungserlebnisse noch mehr bestärkt und verfestigt, sind Menschen wie du und ich, Menschen, die laut brüllend an den Festen unserer Demokratie rütteln, um einen Staat ohne Freiheit und gleiche Rechte für alle zu errichten. Die so wenig als Gefahr eingestuften verharmlosten Verschwörungsgläubigen, die Maskenmüden laufen begeistert mit – um keinen Deut weniger gefährlich. Man hat die »Sorgen der Bevölkerung« lange genug ernst genommen, es wird Zeit, dass sich der Wind dreht und der wehrhafte Staat sich als ebensolcher erweist.

Machen Sie die Augen auf und schauen Sie hin. Wenn das rechte Auge nicht richtig sieht, wird es Zeit für einen Termin beim Optiker.

Die Autorin betreibt den Blog »irgendwiejuedisch.com«.

Judenhass

AJC Berlin: »pro-palästinensische« Demos erinnern an Querdenker

Israelfeindliche Demonstranten und Querdenker? Aus Sicht des Direktors des American Jewish Committee gibt es da durchaus Gemeinsamkeiten. Was er jetzt von der deutschen Zivilgesellschaft erwartet

von Johannes Peter Senk  14.07.2025

Berlin

Lahav Shapira verklagt FU: Prozess beginnt Dienstag

Der attackierte Student wirft seiner Universität vor, zu wenig gegen Antisemitismus auf dem Campus getan zu haben

 14.07.2025 Aktualisiert

Berlin

Israelfeindliches Protestcamp im Regierungsviertel muss umziehen

Als Alternativstandorte wurden den etwa 60 Bewohnerinnen und Bewohnern der Washingtonplatz vor dem Berliner Hauptbahnhof oder eine Wiese im Tiergarten hinter dem Haus der Kulturen der Welt angeboten

 14.07.2025

München

Im Herzen ist sie immer ein »Münchner Kindl« geblieben

Seit 40 Jahren ist Charlotte Knobloch Präsidentin der IKG München. Sie hat eine Ära geprägt und das Judentum wieder in die Mitte der Gesellschaft gerückt

von Christiane Ried  14.07.2025

Jubiläum

Münchner Kultusgemeinde feiert Wiedergründung vor 80 Jahren

Zum Festakt werden prominente Gäste aus Politik und Gesellschaft erwartet

 14.07.2025

Dänemark

Mullah-Spion nach Deutschland überstellt

Der 53-jährige Däne mit afghanischen Wurzeln soll für den Iran jüdische und pro-israelische Ziele in Berlin ausspioniert haben

 14.07.2025

Essay

Wie es zur Katastrophe von Srebrenica kam

Vor 30 Jahren wurden 8372 Bosniaken ermordet - es war der erste Genozid in Europa seit der Schoa

von Alexander Rhotert  14.07.2025

Baden-Württemberg

Schoa-Relativierung vor Kirche in Langenau

Weil ein Pfarrer die Massaker vom 7. Oktober verurteilte, steht er im Visier israelfeindlicher Aktivisten. Zur jüngsten Kundgebung reiste auch Melanie Schweizer an

von Michael Thaidigsmann  14.07.2025

Berlin

Linke und Wegner streiten um israelische Flagge vor Rotem Rathaus

Die Linken-Fraktion im Bezirk Mitte fordert den Senat auf, die israelische Nationalflagge abzuhängen. Der Regierende Bürgermeister weigert sich und erhebt Vorwürfe gegen Die Linke

 14.07.2025