In bewegenden Reden haben Angehörige von Opfern der NS-»Euthanasie» dazu aufgerufen, stärker an die von den Nazis ermordeten Kranken und Behinderten zu erinnern. Es sei «vielleicht ein historisches Ereignis» und ein «Akt später Gerechtigkeit», dass der Bundestag die Erinnerung an diese Opfergruppe in diesem Jahr in den Mittelpunkt seiner Gedenkstunde gestellt habe, sagte Sigrid Falkenstein am Freitag während des Gedenkens im Parlament in Berlin.
Die Opfer von «Euthanasie» und Zwangssterilisation seien lange vom öffentlichen Gedenken ausgeschlossen gewesen. Eine Gleichstellung mit anderen Opfergruppen werde ihnen bis heute versagt, beklagte Falkenstein.
Mordopfer Falkensteins Tante Anna Lehnkering, bei der eine Lernbehinderung diagnostiziert worden war, ermordeten die Nationalsozialisten 1940 in einer Tötungsanstalt. Ihre Nichte stieß nach eigenen Worten 2003 zufällig auf den Namen ihrer Tante auf einer Mordopfer-Liste.
Falkenstein befragte ihre Familie daraufhin nach dem Schicksal der Frau. «Bis 2003 sprach niemand in unserer Familie über Anna», sagte Falkenstein. Dieses scheinbare Vergessen habe sie fassungslos gemacht. Anna Lehnkering sei unvorstellbares Unrecht widerfahren und das Schweigen darüber sei Teil davon. Daher müsse immer wieder an die Opfer erinnert werden, mahnte Falkenstein und zitierte am Schluss ihrer Rede den 2016 gestorbenen Auschwitz-Überlebenden Max Mannheimer: «Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah, aber dafür, dass es nicht wieder geschieht, schon.»
Neben Falkenstein erinnerte Hartmut Traub an seinen Onkel Benjamin Traub, der wegen einer psychischen Erkrankung in der Tötungsanstalt Hadamar umgebracht wurde. Hartmut Traub arbeitete die Leidensgeschichte seines Onkels auf. Eindringlich schilderte er in seiner Rede die grausame Ideologie der Nazis, in der Kranke und Behinderte diskreditiert wurden. «Man nannte sie, ›Ballastexistenzen‹, ›lebensunwertes Leben‹», sagte er. Benjamin Traub wurde 1941 in einer als Dusche getarnten Gaskammer in Hadamar ermordet.
Kritik Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte in seiner Ansprache, dass die Aufarbeitung dieser Morde an Kranken und Behinderten lange Zeit nicht stattgefunden habe und forderte dazu auf, sich mit dem Schicksal der Opfer zu befassen. «Erst Einzelschicksale lassen erkennen, was unschuldigen Menschen angetan wurde», sagte Lammert.
Der Parlamentspräsident erinnerte an die Wannseekonferenz, auf der «mit unfassbarer Menschenverachtung» die Organisation des dann folgenden Massenmordes beraten worden sei. Das Töten mit Gas sei zuerst an den Opfern der «Euthanasie» erprobt worden, sagte Lammert.
Zwischen dem Völkermord an den Juden und diesem Massenmord gebe es somit einen engen Zusammenhang. Die Forschung geht derzeit davon aus, dass mindestens 300.000 Menschen während der NS-Zeit im Rahmen der «Euthanasie»-Programme ermordet wurden.
Ein Aufbegehren gegen die systematische Tötung der als «lebensunwert» verunglimpften Kranken und Beeinträchtigten habe es wenig gegeben, sagte Lammert. Viele hätten sich damals uneingestanden zum Komplizen dieser Verbrechen gemacht. Die «Euthanasie» hätte den hippokratischen Eid, der Ärzte zur Hilfe und Erhaltung von Leben verpflichtet, pervertiert, sagte Lammert. Man frage sich, was hätte verhindert werden können, «wenn mehr Menschen aufbegehrt und zu ihren ethischen Prinzipien gestanden hätten», sagte er. epd