Interview

»Für mich ist das erbärmlicher Antisemitismus«

Matthias Meisner Foto: Dora Meisner

Interview

»Für mich ist das erbärmlicher Antisemitismus«

Matthias Meisner spricht über die Gefährdung der Demokratie durch Coronaleugner und »Querdenker«

von Eugen El  14.04.2021 09:35 Uhr

Herr Meisner, in dem von Ihnen mitherausgegebenen Buch »Fehlender Mindestabstand« geht es um die Coronaleugnerszene. Hätten Sie es vor der Pandemie für möglich gehalten, dass so eine Koalition auf der Straße und im Internet zusammenkommt?
Für mich ist das in dieser Dimension überraschend. Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit demokratiefeindlichen Bestrebungen. In dem 2019 erschienenen Buch »Extreme Sicherheit«, das ich ebenfalls mit Heike Kleffner herausgegeben habe, ging es um Rechtsradikale in den Sicherheitsbehörden. Auch das war eine Bedrohung der Demokratie. Aber dass die Coronaleugnerszene eine solche Breitenwirkung entfalten würde, habe ich mir vor einem Jahr noch nicht vorstellen können.

Ist das Zusammenkommen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen mit Rechtsextremen auf den »Querdenken«-Demonstrationen ein Dammbruch?
Es ist eine schrille Gemeinschaft: Impfgegner, Klimaleugner, Verschwörungsmythiker gehören dazu. Aber dass Menschen nicht mehr Halt machen, wenn auch Hardcore-Neonazis voranmarschieren, ist in hohem Maße erschreckend. In dem Interview, das wir für das Buch mit der Fernsehjournalistin Dunja Hayali geführt haben, sagt sie, wer mit Rechtsradikalen, mit Neonazis, Faschisten oder Antisemiten mitlaufe, habe keine Ausrede mehr. Das kann ich nur unterstreichen.

Gibt es die von Coronaleugnern Abstand haltende gesellschaftliche Mitte noch?
Natürlich gibt es auch viele Menschen, die empört darüber sind, was auf den Straßen passiert. Sie sehen mit immer größerem Missmut, was sich bei den Protesten beispielsweise in Leipzig, Stuttgart, Kassel und Berlin ereignet hat, die wachsende Gewalt und Aggression. Dazu kommen die immer häufiger auftretenden gewalttätigen Attacken auf Impf- und Testzentren. Alles, was da passiert, zeigt, dass es nicht nur um Worte, sondern bei vielen Coronaleugnern um konkrete Taten geht. Um es an einem aktuellen Beispiel zu illustrieren: In Freital bei Dresden soll ein Corona-Testzentrum eröffnet werden. Und ein stadtbekannter Neonazi schreibt mit seinem Klarnamen auf Facebook: »Jeder Raucher hat etwas dagegen in seiner Tasche.« Dazu ein Zwinkersmiley. Zum Brandanschlag ist es dann nicht mehr sehr weit.

Die Angriffe der Coronaleugner richten sich aber auch gezielt gegen Menschen.
Ja. Wenn wir in die Anfangszeit der Corona-Pandemie zurückblicken, dann hat es mit Attacken auf Minderheiten begonnen, einem Corona-Rassismus. Zunächst wurden Menschen vermeintlich asiatischer Herkunft verdächtigt, das Virus zu verbreiten, manche von ihnen wurden deshalb bespuckt. Später ging es gegen Sinti und Roma, weil man ihnen unterstellte, dass sie die Abstandsregeln nicht einhalten. Dann wurden Geflüchtete verdächtigt, sie würden das Virus verbreiten. Mit diesem Argument gab es dann Widerstand gegen die Aufnahme von Asylsuchenden von den griechischen Inseln.

Können Sie mit Ihrem Buch das Coronaleugnermilieu überhaupt erreichen?
Bei Menschen, die ein verfestigtes antisemitisches oder rassistisches Weltbild haben, ist das nicht leicht. Aber nicht jeder Coronaleugner ist rechtsextrem. Wer Bauchschmerzen bekommt, weil er mit Neonazis auf der Straße war, ist womöglich doch empfänglich für Argumente. Mit Fakten können wir auch jene stärken, die in der Familie, im Büro oder in der Wohngemeinschaft mit Coronaleugnern zu tun haben und mit ihnen diskutieren wollen.

Wo verläuft die Grenze?
Die AfD geriert sich in der Pandemie als parlamentarischer Arm der »Querdenker«-Szene. Und Menschen nehmen deren Stichworte auf: »Corona-Diktatur« oder »Merkel-Regime« beispielsweise. Darin spiegelt sich ein extremes Misstrauen gegenüber den Verantwortlichen, die versuchen, die Pandemie zu bewältigen und einzudämmen. Hier wäre für mich die Diskussion zu Ende.

Was möchten Sie mit dem Buch bewirken?
Im Idealfall wird es auch in Staatskanzleien, Rathäusern und bei der Polizei gelesen, quasi als Lehrbuch. Was wir bei vielen dieser Massenproteste gesehen haben, war ein Pingpong zwischen den verschiedenen Behörden, die sich die Verantwortung dafür zugeschoben haben, wenn die Proteste aus dem Ruder liefen und Tausende ohne Masken durch die Innenstädte zogen.

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Ändert sich das allmählich?
Ganz langsam bemerken wir, zuletzt etwa in Frankfurt am Main und Berlin, dass es durchaus gelingen kann, Proteste aufzulösen, wenn sich Demonstranten nicht an die festgelegten Auflagen halten. Oder Verbote von Demonstrationen durchzusetzen. Es ist wichtig, dass Menschen in einer Demokratie ihren Unmut zum Ausdruck bringen können. Aber es darf nicht sein, dass Coronaleugnerinnen und Coronaleugner den Behörden auf der Nase herumtanzen. Das ist zum Beispiel in München geschehen, als ein Querdenken-Protest als Gottesdienst deklariert wurde und so die Auflagen ausgehebelt wurde. Die Schlupflöcher der freiheitlich-demokratischen Grundordnung werden zum Teil schamlos ausgenutzt.

Einige Demonstranten vergleichen sich mit Opfern des Nationalsozialismus wie Sophie Scholl oder Anne Frank. Ein weiterer Dammbruch?
Das war schon zu Beginn der Proteste sichtbar. Ich erinnere mich an eine Demonstration im Mai 2020 in Gera. Dort waren Menschen mit einem »Judenstern« und der Aufschrift »Ungeimpft« unterwegs. Das ist ein Symbol, das immer wieder auftauchte. Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Angelika Barbe hat die Corona-Maßnahmen mit der Judenverfolgung in der Nazi-Zeit verglichen. Für mich ist das erbärmlicher Antisemitismus.

Thematisiert das Buch antisemitische Tendenzen in der Coronaleugnerszene?
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, schreibt in dem Vorwort für das Buch, dass das antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung in der Pandemie der aktuellen Situation angepasst werde. In einem Text beschreiben zudem Fachleute von der Recherchestelle Antisemitismus RIAS Bayern den Antisemitismus als zentrales Ideologieelement bei den Corona-Protesten und warnen mit starken Worten vor dieser Entwicklung.

Wie hoch ist die Gefahr, dass antisemitische Narrative in der Mitte der Gesellschaft verfangen?
Die Mitte ist nicht homogen. Es gibt dort Menschen, die großes Verständnis für die allermeisten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben, die auch hoffen, dass möglichst rasch ein sehr großer Teil der Bevölkerung geimpft wird. Wir müssen gleichwohl darauf achten, dass mit Ende der Corona-Pandemie das Virus Antisemitismus nicht in der Gesellschaft fest verankert bleibt. Menschen, die in der Pandemie den Abstand dazu nicht gehalten haben, werden ihn möglicherweise dann auch nicht mehr halten, wenn es gar kein Coronavirus mehr gibt.

In seinem Vorwort fordert Zentralratspräsident Josef Schuster einen »gesellschaftlichen Klimawandel« angesichts der beunruhigenden politischen Gemengelage im Jahr der Bundestagswahl. Was ist notwendig, damit dieser Umschwung gelingt?
Ich finde es toll, dass Josef Schuster den Bogen in eine ganz andere Richtung spannt und sagt, er sei zuversichtlich, dass es mit Ende der Hygienemaßnahmen wieder viele echte Demokraten auf der Straße geben wird. Er setzt auf weitere Demonstrationen von »Fridays for Future«, auf Demonstrationen gegen Rassismus und Antisemitismus. Diese Form von Optimismus will ich mir auch nicht nehmen lassen: dass am Ende die Diskussionen über die Coronaleugnerszene positiv in einen gesellschaftlichen Klimawandel umgemünzt werden.

Sind gesellschaftliche Bündnisse innerhalb des demokratischen Grundkonsenses ein Weg, die Demokratie in dieser Lage zu verteidigen?
Unbedingt. Weil ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen von der Querdenken-Szene bedroht sind, glaube ich, dass diese Menschen trotz möglicherweise in Details unterschiedlichen Meinungen zusammen agieren und sich für unsere Demokratie engagieren können. Ich freue mich daher, dass unsere Buchpremiere als digitale Veranstaltung in der Berliner Volksbühne – am Ort der ersten »Hygienedemonstration« – stattfinden kann. Josef Schuster wird ein Grußwort halten. Dunja Hayali, Nhi Le, Klaus Lederer, Igor Levit, Ralf Fücks und Katharina Warda haben ihre Teilnahme zugesagt. Unterschiedliche Menschen zeigen damit: Hier ist Demokratie in Gefahr, und wir gehen dagegen vor.

Ihr Buch thematisiert von der Corona-Pandemie hervorgerufene antidemokratische Entwicklungen. Wie lange werden uns diese Entwicklungen noch begleiten?
Diese Menschen sind nicht weg, wenn die Pandemie zu Ende ist. Sie sehen, dass sie in der Coronakrise Aufmerksamkeit für sich organisiert und Misstrauen gegen die Politik, die Wissenschaft und die Presse geschürt haben. Es wird noch ein gehöriges Stück Arbeit sein, diese neuen und zum Teil international agierenden Allianzen im Blick zu behalten, zu bekämpfen und wieder klein zu machen. Am Ende muss wieder das Prinzip der Solidarität die Oberhand gewinnen – gegen den extremen Egoismus der Coronaleugnerbewegung.

Mit dem Redakteur des »Tagesspiegel« sprach Eugen El.

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