Nachruf

Freund der Freiheit, Freund Israels

Richard Herzinger (1955-2025) Foto: Matthias Giordano

Der Verlust ist unermesslich. Mit dem unerwarteten Tod des Publizisten Richard Herzinger am vergangenen Mittwoch verlieren die Freunde einer offenen, zivilen und robust wehrbereiten Gesellschaft einen ihrer wichtigsten Mitstreiter. Dass Freiheit bedroht ist und Gefahr immer dann in Verzug, wenn sich Juden hierzulande nicht mehr sicher fühlen können und der Staat Israel dämonisiert wird – Richard Herzinger hat es immer wieder thematisiert.

Geboren 1955 in Frankfurt (und lebenslang bekennender Fußball-Fan der Eintracht, deren nicht zuletzt jüdische Wurzeln ihn tief bewegten), war Herzinger in den ideologisch aufgepeitschten siebziger Jahren intellektuell sozialisiert worden und hatte, auch als ehemaliger Jung-Trotzkist, daraus Erkenntnis fördernde Schlussfolgerungen gezogen: Erstens ist es notwendig, stets mehrere Schritte weiterzudenken, zweitens lauert dabei das Risiko, sich in Projektionen zu verlieren – und drittens hat die Abwägung zwischen Klugheit und Klügelei permanent stattzufinden, in jedem zu schreibenden Text.

Richard Herzinger hat unendlich viel publiziert, u.a. in »Tagesspiegel« und »Zeit«, in der »Weltwoche«, rund fünfzehn produktive Jahre in der »Welt« und der »Welt am Sonntag« - und natürlich auch hier, in der »Jüdischen Allgemeinen«. Wer ihn nicht leiden mochte – und das waren nicht wenige im Flachdenker-Kosmos – monierten, dass er im Grunde immer wieder den gleichen Text schreibe: Über Freiheit und Freiheitsbedrohungen.

Die Kritik ist mickerig und tumb, denn über was, bitte sehr, sollte ein public intellectual nachdenken wenn nicht zuvorderst über Freiheit, die Garantie nicht nur der eigenen Denk- und Berufstätigkeit, sondern das Fundament unseres gesamten gesellschaftlichen Seins? Denn ohne Freiheit, auch darauf wies Richard Herzinger in seinen Wortmeldungen immer wieder hin, könnten wir schließlich die immens wichtigen Debatten um Soziales, um Klima, um Rentengerechtigkeit oder um Minderheitenrechte und Inklusion überhaupt nicht führen. First things first. Dies jedoch nicht als hohle Ideologie oder entrückt Appellatives, sondern gleichsam immer wieder zurückgebunden ans lebensweltlich Konkrete.

Herzinger hatte ein untrügliches Sensorium für Antisemitismus

Auch im Fall des Antisemitismus. Denn gerade der ursprünglich links Sozialisierte hatte ein untrügliches Sensorium dafür, wie unter dem Deckmantel einer »progressiven Agenda« Israel mehr oder minder deutlich das Existenzrecht abgesprochen wird und gleichzeitig, da beides zusammengehört, die Singularität der Schoa im Verweis auf andere, vor allem westliche Kolonialverbrechen Relativierung erfährt.

Richard Herzinger ging in seinen fundierten Widerreden freilich nie in die rechte Falle, nun seinerseits Verbrechen kleinzureden, die Europa und auch die USA begangen hatten. So wie er auch dem vorgeblichen Gegenwarts-Philosemitismus einer alt-neuen Rechten keine Sekunde glaubte und luzid herausarbeitete, dass das inhumane Menschenbild der Weidels, Trumps und Le Pens sich selbstverständlich (wieder) gegen die Juden richten könnte, falls es denn wähler-strategisch opportun erschien.

Folklore-Kitschiers fremdelten mit ihm ebenso wie die »Anti-Deutschen«

Auch deshalb wird seine Stimme enorm fehlen: Hier schrieb einer, der weder der Simpel-Logik eines »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« folgte noch der Äquidistanz-Bräsigkeit jenes »Die Wahrheit liegt immer in der Mitte«. Von wegen. Immer wieder nämlich gab und gibt es die politischen Hardcore-Verhältnisse und die sie begleitenden (und oft auch vernebelnden) Diskurs-Konstellationen zu prüfen - und die eigenen Referenzmuster gleich mit.

Und nein, selbstverständlich war und ist es keine Inkohärenz, Waffenlieferungen an Israel zu befürworten - und gleichzeitig Benjamin Netanjahus Versuch, die demokratische Gewaltenteilung im Inneren Israels zu schleifen, als immense Gefahr zu beschreiben. So manche vor allem auf Social Media emsig likende und re-postende nicht-jüdische Deutsche, die sich als »pro-israelisch« bezeichnen und dabei doch keinen Schimmer haben von der lebendigen und deshalb zutiefst verteidigungswürdigen Heterogenität des jüdischen Staates mitsamt seiner rechtlich gleichgestellten arabischen Minderheit, hatten deshalb mitunter Mühe, Richard Herzingers stringente Argumentation nachzuvollziehen.

Folklore-Kitschiers fremdelten mit ihm ebenso wie die verdrehten Pseudo-Dialektiker der sogenannten »Anti-Deutschen«; und dass die Antisemiten von rechts/links-außen bis zu den verdrucksten »Israelkritikern« der linken Mitte ihn geradezu hassten, verstand sich von selbst. (So fälschten etwa Hacker in Herzingers Wikipedia-Eintrag wiederholt die Bezeichnung »jüdischer Publizist« hinein, damit infam insinuierend, dass ein Mensch mit einem solchen Nachnamen und einer solch reflektierten Israel-Solidarität selbstverständlich selbst jüdisch sein müsse.)

Untrüglicher Blick auf inner-gesellschaftliche Verwerfungen und geopolitische Katastrophen

Kluge und treffende Kommentare werden ganz gewiss auch weiterhin geschrieben. Was uns jedoch mit Richard Herzinger schmerzlich fehlen wird, ist die Verbindung von historischer Tiefenschärfe, Diskurskritik und dem untrüglichen Blick auf inner-gesellschaftliche Verwerfungen und geopolitische Katastrophen.

Bereits Anfang der neunziger Jahre hatte er etwa die judenfeindlichen Topoi jener besonders in Deutschland so virulenten Zivilisations- und Modernekritik herausgearbeitet, in der die Grenzen zwischen rechts und links schon frühzeitig verschwanden. Hatte darüber hinaus quellen-genau die mentalen Verbindungslinien zwischen Carl Schmitt, Ernst Jünger und Heiner Müller gezogen und das Verheult-Ressentimentgeladene einer bestimmten Art der DDR-Literatur seziert, als sich der Mainstream der bundesdeutschen Germanistik noch ganz ehrfürchtig über das illiberale Geblubber einer Christa Wolf oder eines Volker Braun beugte.

Als dann ab 1991 die vor allem konservativen »alten Hasen der Diplomatie« im Verbund mit der linken Friedensbewegung Deutschland und Euroopa einredeten, mit den Massenmördern Milosevic und Karadzic müsse unbedingt der »Gesprächskanal offen gehalten« werden, um eine »Eskalation zu vermeiden« - da war Richard Herzinger einer der ersten, der in Deutschland vernehmlich seine Stimme erhob. Und das nicht zufällig zusammen mit jüdischen Intellektuellen wie seinen Freunden Wolf Biermann, André Glucksmann und Hannes Stein. Sein zusammen mit Hannes Stein geschriebenes Buch »Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler« antizipierte dann bereits im Jahr 1995 Gestalten wie Putin, Höcke oder Trump und deren Gewaltsamkeit.

Herzinger wurde zunehmend verzweifelter, aber nicht mutloser

Die Frage, die Herzinger bis zuletzt umtrieb: Sind wir wirklich gewappnet gegen die Offensive der Liberalitäts-Verächter? Mit zunehmender Verzweiflung musste er dies mit Nein beantworten, beließ es jedoch nicht bei folgenlosen Ohrensessel-Klagen und analysierte stattdessen die Gründe für unsere Wehrlosigkeit. Und wiederum: Dieser entsetzliche Mangel, Freiheit wertzuschätzen. Den Verteidigungskrieg, den die angegriffene Ukraine schließlich ja auch für uns führt, nicht als solchen wahrzunehmen und stattdessen einem unkonkreten, ja schlimmer noch: in der Endkonsequenz Kreml-bestimmten Friedhofs-Frieden das Wort zu reden.

Nicht zuletzt das feinziselierte Philosophen-Wort, z.B. bei Jürgen Habermas. In seinem Blog »Hold these truth« (nicht zufällig ein Zitat aus der von ihm so bewunderten Verfassung der Vereinigten Staaten) analysierte Richard Herzinger respektvoll, doch ohne falsche Rücksichtnahme jene riesige Lücke, die im Werk des »Hausdenkers der Bundesrepublik« klafft: Wie ist Freiheit robust zu verteidigen, da in unserer Welt doch leider nun mal nicht alles lediglich »herrschaftsfreier Diskurs« ist?

Mehr noch: Hatten Jürgen Habermas und seine Unterstützer damals im Historikerstreit von 1986 Ernst Noltes geschichtsfälschender Auslagerung des Holocaust als »asiatischer Tat« wirklich nur in Anerkenntnis der Singularität von Auschwitz widersprochen – oder vielleicht, wie bewusst oder unbewusst auch immer, nicht auch im Unwillen, sich mit den stalinistischen Verbrechen auseinander zu setzen? Während heute im »postkolonialen Diskurs« quasi ein Nolte-Revival von links veranstaltet wird, um die Menschenheitsverbrechen der Nazis irgendeiner vagen »westlichen Struktur« in Rechnung zu stellen.

Richard Herzinger fehlt jedoch auch deshalb, weil er ein ebenso feines Gespür für jene hatte, die den unschätzbaren Wert der Freiheit zur billigen Travestie herabwürdigen – von Trump und Musk abwärts bis zu jenen lächerlich-forschen Berufsjugendlichen in den Medien und deren sozialdarwinistischem »Wenn jeder an sich denkt ist an alle gedacht«. Doch vor allem die Ukraine, wo er in einem in Kiew erscheinenden Magazin regelmäßig publizierte (in deutscher Übersetzung auf www.perlentaucher.de), verliert mit ihm einen ihrer wortmächtigsten Unterstützer, einen Pragmatiker im besten, ethischen Wortsinn – da ja nicht nur gut, sondern auch »nützlich« ist, was freiheitlich und verteidigungsbereit ist und uns allen damit ein würdiges Leben garantiert.

Herzingers Appell: Bei der Verteidigung der Freiheit nicht nachlassen

Wohl kein Zufall, wo ich Richard Herzinger das letzte Mal traf  - im September beim Abschiedsempfang des Vertreters des demokratischen Taiwan, auch dieser ein gewitzter Freiheitsfreund. Und zeigte mir dann auf dem Rückweg zur U-Bahn am Berliner Gendarmenmarkt zum ersten Mal seit wir uns 1991 bei einem Schriftstellertreffen in Karlovy Vary kennengelernt hatten, etwas Privates: Mit dem Smartphone aufgenommene, wunderschöne Bilder von Ascona im Tessin, der Urlaubslandschaft seiner Kindheit, in die er im Sommer an der Seite seiner Gefährtin zurückgekehrt war.

Und so bleibt er mir im Gedächtnis, der beileibe im persönlichen Kontakt nicht immer Unanstrengende, dem ich dennoch intellektuell so unendlich viel verdanke: Ein knapp Siebzigjähriger, im Hintergrund das Gebäude mit den Büros des vom totalitären China tödlich bedrohten Taiwan, mit einem melancholischen Lächeln das Smartphone in die verbeulte Jacketttasche steckend und einen Abschiedsgruß murmelnd, den das Schicksal jetzt zu einem endgültigen gemacht hat. Dass seine Erinnerung ein Segen sein solle, hätte ihm, den skeptischen Agnostiker, dabei vermutlich sogar ein wenig zu possierlich geklungen. Dann lieber schon ein Avanti, ein Vamos und Kadima, ein die Mutlosigkeit einträchtig ins Abseits kickendes Bange-Machen-gilt-nicht. Richard Herzinger hinterlässt uns ja auch dies: Die Ermutigung und Herausforderung, bei der Verteidigung der Freiheit nicht nachzulassen – ein jeder an seinem Platz und nach seinen Möglichkeiten. Farewell, tapferer Freund.  

Marko Martin ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Soeben erschien sein Buch »Freiheitsaufgaben« (Tropen/Klett-Cotta).

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