Mehr als 100.000 Juden kämpften zwischen 1914 und 1918 in der deutschen Armee. Über 12.000 von ihnen fielen in den Schlachten des Ersten Weltkriegs. Der Großteil dieser deutschen Juden meldete sich freiwillig, um ihr Vaterland zu verteidigen.
Neben diesem patriotischen Motiv, das viele mit ihrem Leben bezahlen sollten, gab es ein weiteres: Diese Juden wollten anerkannt werden als Gleiche unter Gleichen, wollten durch den Dienst an der Waffe ihren Teil leisten, um Gleichberechtigung zu erfahren. Sterben durften sie für das Kaiserreich, Verantwortung tragen allerdings nicht – die Laufbahn als Offizier war ihnen verwehrt.
Gleichberechtigung erlangten Juden im Kaiserreich nicht, ihre verzweifelte Hoffnung wurde durch die Nationalsozialisten im Keim erstickt und mündete letztlich im Menschheitsverbrechen der Schoa – verübt auch von den Männern, mit denen sie 25 Jahre zuvor gedient hatten. Das Kriegsende 1945 markiert das Ende des NS-Staates.
Der Mythos von der »sauberen Wehrmacht«
Nur zehn Jahre später wurde die Bundeswehr gegründet, voll von einstigen NS-Kadern. Dass ein Staat auf deutschem Boden so kurze Zeit nach Entfesselung eines Angriffskrieges eine Armee haben durfte, hatte nur einen Grund: Die Situation erforderte es. Die Alliierten benötigten ein starkes Bollwerk gegen die Sowjetunion; und Kanzler Konrad Adenauer forcierte mit Macht die Westbindung (im Übrigen ein historisches Verdienst!).
1951 gab US-Präsident Dwight D. Eisenhower aus besagter Notwendigkeit heraus eine Ehrenerklärung an die Soldaten der Wehrmacht ab. Sie hätten, mit wenigen Ausnahmen, »tapfer gekämpft und ihre Ehre nicht verloren«.
In der jungen Bundesrepublik schien es völlig undenkbar, dass Juden jemals in der Bundeswehr dienen könnten.
Ende der 50er-Jahre ergab sich ein erschreckendes Bild: Von knapp 15.000 Offizieren der Bundeswehr hatten rund 12.500 bereits in der Wehrmacht gedient, 300 von ihnen waren sogar Mitglieder der Waffen-SS gewesen. Es schien damals in der jungen Bundesrepublik völlig undenkbar, dass Juden jemals in der Bundeswehr dienen könnten. Undenkbar, in der Armee zu dienen, deren Vorgänger für Massenerschießungen und Gräueltaten am jüdischen Volk verantwortlich war. Besonders grausam war das Wissen um die fehlende Anerkennung dieser Verbrechen. Der Mythos von der »sauberen Wehrmacht« war hartnäckig, er hielt sich über Jahrzehnte.
Spät regte sich öffentlicher Widerstand. Erst im unseligen Historikerstreit der 80er-Jahre, dann 1995, als zum ersten Mal eine Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht und ihrer Beteiligung an der Schoa für heftige Diskussionen sorgte. Aber auch aktuell gibt es Geschichtswissenschaftler, die eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« fordern. Doch diese Menschen stehen mit ihren Meinungen heute nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft, sie sind zu Randerscheinungen verkommen.
Deutschland muss wieder verteidigungsfähig werden
Das Ende des Kalten Krieges beendete ab 1990 zunächst das Erfordernis einer verteidigungsfähigen Armee. Unsere Soldatinnen und Soldaten wurden eine, nur ungern gesehene, Erinnerung an überwunden geglaubte Zeiten. Die »Zeitenwende« hat diesen Trugschluss beendet. Die Friedensdividende ist ausbezahlt, Deutschland muss und will wieder verteidigungsfähig werden. Deshalb ist auch die Zeit gekommen, dass wir uns als deutsche Juden die Frage stellen: Wo stehen wir heute, 80 Jahre nach der NS-Herrschaft?
In der Bundeswehr dürfen Juden Offiziere werden. Das Ziel der Gleichberechtigung haben wir, trotz des erschreckenden und in unserer Gesellschaft wieder zunehmenden Antisemitismus, erreicht. Wir sind ein selbstbewusster Teil dieser Gesellschaft. Wir sind Gleiche unter Gleichen. Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in der Etablierung des Militärrabbinats wider. Seitdem steht die jüdische selbstbewusst neben evangelischer und katholischer Militärseelsorge. Die Gründung des Militärrabbinats ist nicht zuletzt Ausdruck eines Vertrauensbeweises gegenüber der Bundesrepublik und der Bundeswehr. Sie ist ein Meilenstein auf dem Weg, den wir seit 1945 zurückgelegt haben.
Als jüdische Gemeinschaft sind wir enger mit der Bundeswehr verbunden als jemals zuvor.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine unterstreicht nun drastisch die Notwendigkeit einer Wiederaufrüstung und Modernisierung unserer Bundeswehr. In diesem Geiste hat sich die Bundesregierung auf eine Musterungspflicht für alle Männer eines Geburtenjahrgangs geeinigt, beginnend mit 2008. Das letzte Mal wurde die Frage, ob Juden zum Dienst im deutschen Militär verpflichtet werden können, in den 80er-Jahren rechtlich geklärt. Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 konnten sie sich auf Antrag von der Musterung zurückstellen lassen.
Seitdem ist viel Zeit vergangen. Als jüdische Gemeinschaft sind wir enger mit der Bundeswehr verbunden als jemals zuvor. Juden dienen und führen gleichberechtigt. Regelmäßig betonen wir den engen Zusammenhang zwischen dem Zustand der jüdischen Gemeinschaft und den Werten unseres Grundgesetzes. Den Feinden der offenen Gesellschaft ist beides ein Dorn im Auge: Wer Juden angreift, der greift die Säulen der freiheitlichen Demokratie an – und umgekehrt!
Auch heute dürfen wir die historische Verantwortung nicht in den Wind schlagen: Kein Jude darf zum Dienst an der Waffe gezwungen werden, es muss eine einfache, unbürokratische Lösung geben, um im Zweifel einen Zivildienst antreten zu können. Das ist eine höchstpersönliche Entscheidung.
Ich bin allerdings überzeugt: Wenn die Situation es erfordert, dann müssen wir Juden als Gemeinschaft heute bereit sein, unseren Teil zu leisten. Nicht, weil wir gleichberechtigt sein wollen, sondern weil wir gleichberechtigt sind. Deshalb unterstütze ich die Musterungspflicht der Bundesregierung.
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.