Nordrhein-Westfalen

»Falsche Fakten«

Der Historiker Martin Liepach über eine Studie, die judenfeindliche Stereotype in Schulbüchern offenlegt

von Lilly Wolter  18.02.2023 19:00 Uhr

Plädiert für eine umfassende Überarbeitung vieler deutscher Schulbücher: Martin Liepach Foto: Fritz Bauer Institut

Der Historiker Martin Liepach über eine Studie, die judenfeindliche Stereotype in Schulbüchern offenlegt

von Lilly Wolter  18.02.2023 19:00 Uhr

Herr Liepach, vergangene Woche wurde eine Studie zur Darstellung des Judentums in nordrhein-westfälischen Schulbüchern veröffentlicht. Sie haben maßgeblich daran mitgewirkt. Das Ergebnis: Die Bücher enthalten nicht intendierte, aber dennoch antisemitische Stereotype. Welche sind das?
Der Klassiker ist der jüdische Geldverleiher. Das ist ein Stereotyp, das sich in der einen oder anderen Form auch in anderen Epochen fortsetzt, aber vor allem im Mittelalter ganz stark betont wird, beruhend auf problematischen Interpretationen und auch teilweise falschen Fakten. Wenn dort beispielsweise mehr davon die Rede ist, dass Christen kein Geld leihen durften und ausschließlich Juden die Geldverleiher waren, dann beruht das auf historisch falschen Darstellungen. Wenn es dann weiter semantisch in die Richtung geht, dass viele Christen bei den Juden verschuldet waren, könnte das zu einer Entschuldigungserzählung führen, mit welcher möglicherweise in Anführungszeichen verständlich gemacht werden soll, wie es zu dem Pogrom gekommen ist.

Welche subtileren Formen des Antisemitismus haben Sie entdeckt?
Wenn beispielsweise davon die Rede ist, dass Juden Fremde sind; auch wenn das Fremde in Anführungszeichen gesetzt wird, ist allein schon diese Kategorisierung negativ konnotiert. Und damit kommt man einer Reproduktion der antisemitischen Erzählweise relativ nahe. Schon, wenn die jüdische Bevölkerung nicht als vollwertiges Mitglied der deutschen Gesellschaft deklariert wird.

Welche Bücher haben Sie begutachtet?
Jene, die im sogenannten Fachbereich 2 zu Hause sind. Das sind gesellschaftswissenschaftliche Fächer wie Erdkunde, Geografie, Politik und Wirtschaft, aber auch Bücher aus dem Bereich Religions- und Werteunterricht. Wir vom Fritz Bauer Institut haben das Fach Geschichte übernommen und Schulgeschichtsbücher mit Fokus auf die Epochen Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Holocaust untersucht.

Der Zentralrat der Juden hatte die Studie 2018 angeregt. Wie sind die Befunde nun zu bewerten? Können Eltern ihre Kinder in Deutschland in die Schule schicken und davon ausgehen, keine antisemitischen Inhalte gelehrt zu bekommen?
Die Schulbücher als solche fördern keinen Antisemitismus. Aber manche Bücher beinhalten problematische – und ich würde auch sagen: handwerkliche sowie fachwissenschaftliche – Fehler. Wir haben in der Untersuchung zudem nicht nur auf Antisemitismus geschaut, sondern auch auf jüdische Geschichte. Da gibt es Leerstellen in der Erzählung.

Welche wären das?
Jüdisches Leben nach 1945 ist nicht in den Schulbüchern vorhanden, weil es nicht in den Curricula steht. Das ist ein Problem, was für viele Bundesländer gilt. Was vorkommt, ist die Erinnerungskultur nach 1945. Wenn man bessere Schulbücher haben möchte, müssten Veränderungen in den Schulen, in den Lehrplänen und in den Curricula her. Und es müsste auch die jüdische Geschichte nach der Schoa in Deutschland einen festen Stellenwert bekommen.

Wer darf in Deutschland überhaupt Schulbücher schreiben?
Die Schulbuchverlage geben den Auftrag an bestimmte Autoren, die dann das entsprechende Kapitel schreiben. Das sind in der Regel durchaus Fachhistoriker oder Geschichtslehrer. Aber es ist nicht nur mit den Autorentexten getan, es stellt sich auch die Frage, welche Materialien mit hineinkommen.

Ihre Studie legt auch offen, dass die Darstellung des Nahostkonflikts oft nicht die Komplexität abdeckt. Israel wird als Kriegsführer, als die böse Besatzungsmacht dargestellt. Wie kann die Vermittlung dieses komplexen Themas gelingen?
Die Geschichte des Nahostkonflikts ist sehr komplex. Es scheitert allein schon an der Tatsache, dass am Ende nur wenige Seiten dafür zur Verfügung stehen. Es ist ein Erzählproblem, das Problem ist aber auch ein methodisches und didaktisches. Wenn man einen jüdischen Siedler, der zudem noch fiktiv ist, in einem Buch für Gesellschaftslehre als einzige israelische Perspektive einführt, so ist das natürlich eine höchst problematische Repräsentation.

War die Untersuchung stichprobenartig?
Nein, wir haben alle Schulbücher untersucht, die in NRW im Gebrauch sind. So ist ja auch diese wirklich immense Summe von insgesamt 252 Büchern zusammengekommen. Es war in der Tat eine sogenannte Totaluntersuchung.

Sprechen die Ergebnisse auch für ganz Deutschland?
Ja, ich denke, die Untersuchung als solches wird nicht abweichen von anderen Bundesländern. Wir sind hier am Fritz Bauer Institut auch weiterhin dabei, Schulgeschichtsbücher zu untersuchen.

Wie viele von diesen 252 Büchern bräuchten denn aus Ihrer Sicht eine Überarbeitung?
Das kann ich schwer sagen, weil ich nur Schulgeschichtsbücher untersucht habe. Von 20 oder 25 Büchern gab es hier vielleicht eine Handvoll, die überzeugend waren. Das deutsch-polnische Schulgeschichtsbuch hat beispielsweise einen etwas differenzierteren Blick auf jüdische Geschichte geworfen. Aber wenn Sie mich so fragen: Bei etwa drei Viertel der Bücher ließe sich etliches verbessern.

Mit dem Historiker des Fritz Bauer Instituts und Mitglied der Deutsch-Israelischen Schulbuchkommission sprach Lilly Wolter.

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