Diplomatie

»Europa braucht Juden«

»Gegebenenfalls werden wir Gerichte einschalten«: Katharina von Schnurbein Foto: imago

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»Europa braucht Juden«

Katharina von Schnurbein über die EU und Antisemitismus

von Ralf Balke  29.03.2016 11:55 Uhr

Frau Schnurbein, Anfang Dezember hat die Europäische Kommission mit Ihnen erstmals die Stelle einer Koordinatorin zur Bekämpfung von Antisemitismus besetzt. Wie kam das zustande, und warum fiel die Wahl auf Sie?
Seit der Jahrtausendwende verzeichnen wir in vielen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einen wachsenden Antisemitismus und Rassismus, der uns große Sorgen macht. Seitens der EU-Kommission wollte man darauf reagieren und ein politisches Signal setzen. Die Bekämpfung von Antisemitismus kann nicht den Juden überlassen werden – es ist eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung. Um das deutlich zu machen, brachte die Kommission im vergangen Oktober 300 Vertreter aus Politik, Zivilgesellschaft, jüdischen und muslimischen Verbänden zusammen. Als Folge wurden im Dezember 2015 zwei Koordinatoren ernannt. Einer zur Bekämpfung des Antisemitismus sowie ein weiterer, der sich mit Muslimfeindlichkeit beschäftigt. Dabei sind wir uns der sehr unterschiedlichen geschichtlichen Hintergründe und Ausprägungen der beiden Phänomene durchaus bewusst.

Was ist Ihre Aufgabe?
Meine Aufgabe besteht unter anderem darin, mit jüdischen Organisationen in ständigem Austausch zu sein, um die politische Ebene der EU-Kommission zeitnah über Sorgen und Befürchtungen der Juden in Europa zu informieren, Lösungswege aufzuzeigen und deren Umsetzung gegebenenfalls auf EU-Ebene, im engen Austausch mit dem Europäischen Parlament, den Mitgliedsstaaten und anderen internationalen Organisation, zu koordinieren.

Haben Sie sich bereits früher schon mit dem Thema auseinandergesetzt?
Seit vier Jahren bin ich Koordinatorin für den Dialog mit Religionen und Weltanschauungen in der Europäischen Kommission und hatte in diesem Zusammenhang intensiven Kontakt unter anderem zu den drei großen Weltreligionen. Antisemitismusbekämpfung spielte in dem Dialog ebenso eine wichtige Rolle wie die Sensibilisierung jüdischer Themen, soweit sie EU-Gesetzgebung berühren, wie zum Beispiel das Schächten. Privat pflegte meine Familie immer enge Kontakte nach Israel und zu Juden in der Nachbarschaft. Häufig kamen jüdische Freunde zu Besuch. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich noch ein Kind war. Jemand hatte in der Nacht vor einem Besuch israelischer Freunde auf unsere Straße ein riesiges Hakenkreuz gesprayt. Meine Mutter kontaktierte die Stadtwerke, die dafür sorgten, dass die Schmierereien verschwanden, bevor die Freunde ankamen. Ich begriff damals, wie entscheidend die Verantwortung und das Handeln Einzelner in solchen Situationen ist. Damals kam der Antisemitismus fast immer aus der rechtsextremen Ecke. Heute haben wir es zusätzlich mit einer Judenfeindschaft von linksextremer und islamistischer Seite zu tun, die jeweils unterschiedlich bekämpft werden muss.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf bei der Bekämpfung antisemitischer Tendenzen?
Wir pochen bei allen Mitgliedsstaaten zurzeit auf die korrekte Umsetzung und Anwendung der sogenannten EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit und werden gegebenenfalls die Gerichte einschalten. Diese Richtlinie stellt unter anderem Holocaustleugnung unter Strafe. Diesen Aspekt haben erst 13 von 28 EU-Mitgliedsstaaten korrekt umgesetzt. Und die Richtlinie wurde von den Ländern im Jahr 2008 verabschiedet. Dazu gehört auch, dass die zuständigen Behörden entsprechend geschult und sensibilisiert werden. Zweitens geht es um die Bekämpfung von Hassreden und Hetze im Internet. Seit Oktober sind wir in intensivem Dialog unter anderem mit Google, Twitter und Facebook, um zu eruieren, wie man vermeiden kann, dass soziale Netzwerke als Plattformen zur Verbreitung von Hass-Propaganda dienen. Drittens ist es wichtig, in Bildung zu investieren, Lehrer zu schulen, um mit Antisemitismus in Schulen umzugehen, Schüler zu motivieren, über ihren eigenen Tellerrand zu gucken und Dinge aus der Sicht des anderen zu sehen. Mit Blick auf die Flüchtlinge geht es zurzeit auch darum, unsere Werte klar zu formulieren und weiterzugeben. Werte wie Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, Demokratie, Rechtsstaat und eben auch keine Toleranz gegenüber Antisemitismus.

In Ihrer ersten offiziellen Rede als EU-Koordinatorin sagten Sie: »Wenn der Kanarienvogel nicht mehr singt, ist Europa in der Krise.« Wie ist dieser Satz zu verstehen?
Dieser Satz war auf Englisch und bezog sich auf die Rolle der Kanarienvögel früher im Bergbau. Solange diese sangen, war die Luft unter Tage in Ordnung. Hörte der Vogel auf zu singen, wurde der Stollen sofort evakuiert. Ich wollte damit auf die Bedrohung des jüdischen Lebens in Europa hinweisen und die Tatsache, dass viele Juden sich in Europa nicht mehr sicher fühlen. In Jahrzehnten sahen wir nicht so viel Auswanderung von Juden nach Israel wie im vergangenen Jahr. Europa ohne Juden wäre nicht mehr Europa.

Angesichts des zunehmenden islamischen Antisemitismus in Europa stellt sich die Frage nach der Zusammenarbeit mit Vertretern des Islam. Gibt es da Ansätze?
Dialog zwischen den beiden Gemeinschaften ist sicherlich zentral. Im Rahmen des Dialogs mit Religionen bin ich insbesondere mit Imamen in Kontakt. Mein Kollege, der zuständig ist für die Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit, die es seit den Anschlägen in Paris ebenfalls zunehmend gibt, baut im Moment ein darüber hinausgehendes Netzwerk zu muslimischen Gruppen auf. Das ist aufgrund der Organisationsstrukturen und -vielfalt des Islam nicht ganz einfach, aber es ist wichtig, geeignete Gesprächspartner zu finden.

Mit der Koordinatorin der Europäischen Kommission sprach Ralf Balke.

Seit Dezember 2015 ist Katharina von Schnurbein Koordinatorin der Europäischen Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus. Zuvor gehörte sie zum Beratergremium des EU-Präsidenten, zuständig für den Dialog mit Kirchen und Religionsgemeinschaften.

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