Meinung

Erbärmlich

Die ehemalige WDR-Chefredakteurin Sonia Seymour Mikich Foto: picture alliance / dpa

Der Schock weicht einem nächsten Schock: Seit dem 7. Oktober liefert jedes Aufwachen am Morgen irgendeinen Beweis, dass Juden schon wieder die einsamste Minderheit der Welt sind, dass die Verwechslung von Täter und Opfer nach einem kurzlebigen Entsetzen weitergeht.  Der Grundton: alles hängt mit allem zusammen und wir sollen »kontextualisieren«, was eher »relativieren« meint.

Da nimmt die Polizei in Duisburg einen IS-Bekenner fest, der mutmaßlich Attentate an pro-israelischen Demonstrationen plante, möglicherweise mit einem LKW. Dank Geheimdiensterkenntnissen aus dem Ausland wird also Böses verhindert. Aber hängen bleibt der Gedanke: werden sich Menschen nun davon abhalten lassen, auf die nächste Solidaritätskundgebung zu gehen? Die doch selbstverständlich wären, solange nicht alle Geiseln freikommen?

Es sollte ja ein machtvolles Zeichen der Solidarität mit Israel und mit den Jüdinnen und Juden in Deutschland werden, als 10 000 Menschen vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen Antisemitismus demonstrierten, die Veranstalter schätzten sogar 25 000 Teilnehmer.

Bundespräsident Steinmeier erinnerte, dass der Schutz jüdischen Lebens »Staatsaufgabe« sei und auch Bürgerpflicht. Plakate mahnten: »Nie wieder – ist jetzt«, eindringliche Reden von Angehörigen der entführten Israelis wühlten auf, und der Schulterschluss aller Demokratien gegen Terror und Judenhass wurde beschworen. Alles klang gut, sah würdig aus, war korrekt – und ich war irritiert.

Mehr waren nicht gekommen? Nach einem monströsen Blutrausch islamistischer Terroristen, dem 1400 unschuldige Frauen und Männer, Alte und Babys zum Opfer fielen? Ach was, zerstückelt, verbrannt, vergewaltigt wurden? Folterungen, für die es keine Adjektive mehr gibt, denn wie steigert man »grausam« oder »unmenschlich«?

Eine Woche zuvor ging ich zu einer Kundgebung in Köln, mit etwa 500 Menschen. Die jüdische Community,  der Bürgermeister, Vertreter der Zivilgesellschaft, Iraner und Kurden waren da. Multikulturell und divers im freundlichen Sinn, unideologisch und friedlich. Sie sprachen auch Mitleid mit den palästinensischen Menschen in Gaza aus, die von Hamas wie Geiseln benutzt werden, schon seit Jahren und nun menschliche Schutzschilde für eine Verbrecherbande sind. Hier stehen die Anständigen – ging mir durch den Kopf.  Wären es doch nur mehr!

»Unerträglich« ist das meist benutzte Wort in den großen Reden, zur Floskel geronnen. Mir fehlte in der deutschen Öffentlichkeit die Sprache, um die Barbarei des 7. Oktober angemessen zu beschreiben, und es fehlte eine Erklärung, warum die kollektive Trauer in Deutschland eher verwaltet als empfunden wurde. Schade, ein Alter Weißer Mann in Washington, Präsident Joe Biden, zeigte, wie aufrichtige Empathie geht.

Ich erinnere mich an die großartige Solidarität mit Frankreich, wo islamistische Mörder die Mitarbeiter der Satirezeitung Charlie Hebdo brutal getötet hatten.  Der 12 Toten wurde in Trauermärschen gedacht, europäische Regierungschefs an der Spitze. Millionen solidarisierten sich, auf der ganzen Welt zeigten Menschen ihre Anteilnahme unter dem Hashtag »Je suis Charlie«.  Zwei Tage später tötete ein Islamist vier Juden im Supermarkt für koschere Waren, »Hyper Cacher«.  Das verschwand mehr und mehr aus den Erinnerungen und Berichten. Auch heute klickt es bei »Charlie Hebdo« oder »Bataclan«, jeder kennt die Ereignisse. Die Ermordeten im jüdischen Supermarkt gehören wohl zur Kategorie »... and more...«.

Nach dem schlimmsten Pogrom seit dem Holocaust ist es nicht laut, nicht wütend genug in Deutschland. Die Parole »Nie wieder – ist jetzt« füllen vor allem jüdische Journalisten und Schriftsteller mit Leben, als ob es – lebenslänglich - ihre private Mission wäre und nicht Aufgabe der deutschen Zivilgesellschaft insgesamt. Darum ist es umso wichtiger, wieder und wieder und unbeirrbar den Antisemitismus zu benennen und bekämpfen, den alten der Rechtsextremen, den neuen vieler Immigranten und  Linken.

Jeder kann in diesen Wochen sehen und hören, wie sich Antisemitismus austobt, in Berlin brennen im Stadtteil Neukölln Barrikaden und Molotowcocktails fliegen Richtung Synagoge. Junge Palästinenser, Türken, Syrer haken sich bei jungen »Antirassisten« und »Antiglobalisten« auf Demonstrationen ein, wo die Auslöschung des »kolonialistischen Apartheidstaates« Israel gefordert wird. 

Ich kann die Dummheit, die mangelnde politische Bildung kaum fassen, wenn Teile der Klima- und Queerbewegung in Hamas eine Befreiungsbewegung sehen, revolutionär und gerecht. Mehr wollen sie wohl nicht wissen: Juden haben halt alle Palästinenser vertrieben, als sie ihren Staat bekamen, dazwischen eine Leerstelle in der Geschichte, und jetzt hungern sie die Menschen im Gaza aus und das ist  verwerflich.

Ob die jungen Hamas-Follower überhaupt nichts wissen von ihren Altersgenossen in Gaza, die im Gefängnis landen und Schlimmeres, wenn sie gegen den islamistischen Mainstream leben wollen? Von den Schulen und Universitäten dort, wo Judenhass Bildungsauftrag ist?

Ich trauere um Jahre der gutgemeinten, aufwändigen Integrationsversuche in Deutschland, wenn manche Flüchtlinge in ihrer rechtstaatlichen und demokratischen neuen Heimat Meinungsfreiheit so verstehen, dass Palästinenser immer Opfer sind, Juden die Welt beherrschen und Terror darum irgendwie legitimiert ist.

Neue Studien warnen, dass antisemitische Einstellungen unter Migranten aus dem Nahen Osten und unter Muslimen weiter verbreitet sind als im Durchschnitt der Deutschen. So wundert es mich kaum, dass im Internet und auf deutschen Straßen die Abschlachterei vom 7. Oktober als Heldentat der Hamas gefeiert wurde, Tanz und Süßigkeiten inklusive.

Dass jetzt noch mehr Polizisten vor jüdischen Schulen und Kindergärten stehen, dass Menschen ihre Türklingel überkleben, dass viele einfach Angst haben, mit Kippa oder Davidstern auf der Straße gesehen zu werden, dass Eltern ihre Kinder in diesen Tagen nicht zur Schule schicken aus Sorge vor Gewalt, dass Koscher-Restaurants zur Vorsicht schließen.

Ganz offen raten besorgte Bürger Juden davon ab, »sich zu gewissen Zeiten an gewissen Orten aufzuhalten«. Allein in der ersten Woche nach dem Terrorakt wurden 202 antisemitische Vorfälle in Deutschland registriert. Hakenkreuze und Davidsterne an Hauswänden, angezündete Israel-Fahnen, Beschimpfungen, Aufrufe zur Gewalt : »Für jeden Zionisten eine Kugel«. Jahrzehnte nach dem Holocaust vertieft sich jüdische Angst in Deutschland – wie unendlich beschämend ist das?

Geradezu pervers wird es, wenn auf pro-palästinensischen Demonstrationen die Deutschen aufgefordert werden, sich von ihrer historischen Verantwortung gegenüber Israel zu befreien. »Free Palestine from German guilt«. Ja, die Hemmungen fallen, die Geschichtslosigkeit in den Köpfen ist zementiert.

Eine Parole, die nicht nur von linken Teilen der akademischen Jugend abgenickt wird, sondern auch von Rechtsextremen. Sie ist identisch mit dem dreisten Vokabular der AfD-Parteiführer, die Nazideutschland als »Vogelschiss der deutschen Geschichte« einordnen und den »Schuldkult« der Deutschen beenden wollen. Der Zivilisationsbruch vom 7. Oktober ragt also in den deutschen Diskurs hinein, mischt auf - politisch, emotional, psychologisch.

Wenn ich mit jüdischen Freunden oder Kollegen hierzulande spreche, lieben sie Israel, sind ohne Wenn und Aber solidarisch mit der militärischen Gegenwehr, die jetzt gegen Hamas sein muss. Und gleichzeitig sprechen sie von der Misere der Zivilbevölkerung in Gaza, von den nötigen Hilfslieferungen, vom Versagen der Regierung Netanjahu und seiner korrupten, rechtsextremistischen Entourage, einen Zukunftsplan für die Region zu entwerfen.

Harte Kritik an Israels verheerender Siedlungspolitik kommt hierzulande oft von Israelis selbst oder von jüdischen Deutschen. Sie strengen sich an, Hamas und Hisbollah und PLO und die anderen Friedensverhinderer von Millionen einfachen Bewohnern zu unterscheiden und sorgen sich um die humanitäre Katastrophe.

Umso enttäuschender, wie leise die Stimmen friedfertiger Araber sind. Wenige treten öffentlich auf und positionieren sich mutig. Viele Tage brauchten islamischen Verbände, um sich zum Massaker zu äußern und ihn eindeutig zu verurteilen ohne sofort zu relativieren. Wie sehr die Emotionen der berühmten »Arabischen Straße« hier hoch kochen, sah ich in Berlin, wo junge Demonstranten versuchten, aus dem Stadtteil Neukölln ihr eigenes Gaza zu machen, mit Feuer und Gewaltausbrüchen.

Seit einigen Tagen gibt es an zahlreichen Schulen und Institutionen Bombendrohungen, die die Polizei in Atem halten. Im Fernsehen erschrecken unverblümte Hassreden von jungen Menschen  mit und ohne deutschen Pass. Die gemäßigte Rhetorik hört sich so an: »Ich rechtfertige nicht die Aktion der Hamas, ABER die Israelis sollen sich nicht wundern über die Reaktion eines unterdrückten Volks«/ »ABER was haben die Juden 1948 mit den Palästinensern gemacht«. Der Whataboutism erlebt eine Hochkonjunktur. Die Polarisierung scheint für die Ewigkeit gemacht.

Schwarzweißdenken ist bequem, Differenzieren ist langsam und anstrengend. Und so kam es prompt zum ersten Beispiel für lausigen Journalismus, als Medien weltweit die Meldung der Hamas übernahmen, es habe eine israelische Rakete ein Krankenhaus in Gaza völlig zerstört mit 500 zivilen Opfern. Wenige Minuten nach dem Einschlag stand für Medien aller Genres schon fest, wer Täter und Opfer waren, aufgrund einer »Information« der Hamas. Wie bitte? Eine lügnerische Terrororganisation diente als seriöse Quelle? Mein Credo als Journalistin und als Bürgerin war stets: WER will, dass ich WAS glaube und WARUM?«

Doch die Aktualität war strenge Herrin in den Redaktionen und Posts, Blicklenkung und Blickverweigerung funktionierten mal wieder gut. Es dauerte Tage bevor Satellitenaufnahmen und unabhängige forensische Recherche nahelegten, dass eine irregeleitete Rakete von Terroristen den Parkplatz vor der Klinik traf, Zahl der Toten nicht zu verifizieren. Das Narrativ der Hamas war aber längst verankert in Köpfen und Herzen.

Ebenso die Erzählung von Ärzten, die bei Taschenlampenlicht in überfüllten Krankenhäusern Schwerverletzte operieren müssen, weil es ohne Treibstoff keinen Strom gibt. Schrecklich, und es stimmt, aber die journalistische Ergänzung müsste lauten: Die Hamas hat riesige Mengen Treibstoff gelagert, gibt ihn aber nicht an die Krankenhäuser ab.

Getting it first or getting it right – in der social-media-Welt ist Geschwindigkeit die höchst Tugend geworden, Zweifel stören. Mit Trauer denke ich daran, wie gerade dieser alte Konflikt um Palästina ein weiteres Opfer hat - die Wahrheit. An deren Stelle ist getreten: »owning the narrative«.

Jede Silbe, die man in Deutschland zu Israel schreibt oder sagt, wiegt schwer, seit dem 7. Oktober tonnenschwer, scheint mir. In einem einzigen Satz würde ich gern ausdrücken können: Hamas hat die Hölle nach Israel gebracht UND das Schicksal der Entführten zerreißt das Herz UND Not und Tod der Menschen in GAZA berühren jeden anständigen Menschen UND Israel hat ein Existenzrecht UND für alle in der Region muss ein gerechter Frieden her.

Ein ganz und gar unbeholfener Satz, der versucht, ohne ein ABER auszukommen.

Die Autorin ist Bestsellerautorin und frühere WDR-Chefredakteurin.

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