Biografie

»Ein großes Puzzle«

Mit viel Feingefühl erzählt Mihail Groys über seine Ankunft in Deutschland Foto: Ben Fuchs

Biografie

»Ein großes Puzzle«

Mihail Groys kam als Kind aus der Ukraine nach Deutschland. Über sein Bild der neuen Heimat, über Feinheiten und grobe Unterschiede hat er nun ein Buch geschrieben. Ein Auszug

von Mihail Groys  24.09.2025 20:49 Uhr

Am Anfang war die Toilette, die Toilette in der Regionalbahn. Sie bereitete mir nach wenigen Minuten in Deutschland erste Probleme. Ich konnte kein Deutsch und wusste nicht, welche Bedeutung die Tasten hatten. So drückte ich statt der Spülung die Notfalltaste, der gesamte Zug musste für einige Minuten stoppen und der Schaffner nachschauen, ob alles in Ordnung war. Wegen meiner Neugier, gepaart mit fehlenden Sprachkenntnissen, bekam ich natürlich Ärger. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. War also meine Ankunft in Deutschland wortwörtlich »ein Griff ins Klo«?

Meine deutsche Geschichte begann am 4. Juni 1998 an einem heißen und sonnigen Tag am Bahnhof Berlin-Lichtenberg. Ich war sieben Jahre alt und mit meiner gesamten Familie als jüdische Zugewanderte aus dem Donbass, für mich das ukrainische Ruhrgebiet, nach Deutschland gekommen. Wir standen am Bahnsteig mit nur elf Koffern, viel Hoffnung auf ein besseres Leben und reichlich Enthusiasmus. Wir strebten nach Glück. Uns bewegte dieses Gefühl, das auch vielen Abenteurern und Entdeckern gut bekannt ist.

Ein kleiner Spoiler zu Beginn, in diesem Buch soll es nur in Teilen um mich und meine Familie gehen. Autobiografische Migrantengeschichten und -bücher gibt es genügend, und meistens steht am Ende »Hurra Deutschland, danke« oder »Böses Deutschland, alles schlimm hier«. Das finde ich langweilig. Auch halte ich es für übertrieben, mit Anfang 30 bereits eine Autobiografie zu verfassen – als hätte ich schon genug erlebt für ein filmreifes Epos. Allerdings leben wir in Zeiten, in denen selbst junge Menschen Erfahrungen sammeln, die für mehrere Leben reichen würden.

In diesem Buch geht es vor allem darum, die Wesensmerkmale der deutschen Seele zu ergründen. Um meine Perspektiven und Erfahrungen besser einordnen zu können, beschreibe ich anfangs einige familiäre Hintergründe und Anekdoten aus den ersten Jahren in Deutschland. Welche Herausforderungen und Chancen ergeben sich für jemanden, der aus der Ukraine stammt und zugleich jüdische Wurzeln hat, wenn er die deutsche Gesellschaft verstehen will?

Meine deutsche Geschichte spielt sich in den Zwischenräumen unterschiedlicher Narrative und Positionen ab. Um dies zu veranschaulichen, zeichne ich die vielen gesellschaftlichen und sozialen Spannungen des letzten Vierteljahrhunderts nach, ohne dabei in Schwarz-Weiß-Denken verfallen zu wollen. In den Grautönen des Lebens spiegeln sich die bemerkenswerten Geschichten und Begebenheiten wider, die dieses Buch füllen.

»Meine deutsche Geschichte spielt sich in den Zwischenräumen von Narrativen ab.«

Mihail Groys


Wenn ich auf meine 25 Jahre in Deutschland zurückblicke, möchte ich einige Aspekte besonders hervorheben, die von deutschen Familienverhältnissen über Essgewohnheiten bis hin zu seriösen gesellschaftspolitischen Themen reichen. Dabei will ich mit meinen ukrainisch-jüdischen und neudeutschen Perspektiven ein facettenreiches und tiefgehendes Bild unseres Landes nachzeichnen. Mir geht es nicht darum, als Erklärbär aufzutreten, sondern vielmehr darum, meine persönlichen Beobachtungen und Eindrücke zu schildern. Mein Ziel ist es, zum Nachdenken anzuregen. Gerade freies Denken betrachte ich als eine Grundvoraussetzung für Neues und Fortschritt in jeder Gesellschaft. Auch unserer deutschen Gesellschaft würde es guttun, sich häufiger auf mutige Gedankenexperimente einzulassen. Dieses Buch soll dazu anregen, das eigene Deutschlandbild und unser Miteinander in diesem Land zu reflektieren.

Alle meine Erlebnisse, Abenteuer, Herausforderungen, Tränen der Freude und des Schmerzes haben dazu geführt, dass ich das Land besser verstehe. Verbunden damit war und ist die Hoffnung, mich selbst darin wiederzufinden. Die Wechselwirkung zwischen mir als Individuum und der Entwicklung des Landes empfinde ich als erzählenswert. Die deutsche Seele und das Wesen zeigen sich für mich besonders bei alltäglichen Themen wie Essen, Kleidung, Autos und dem Umgang mit Tieren. Dabei wird mir klar, wie stark mein jüdisch-ukrainischer Hintergrund davon abweicht – und wie er sich zugleich auf interessante Weise mit meiner deutschen Identität ergänzt. Insgeheim glaube ich daran und hoffe ich darauf, dass sich einige Menschen darin wiedererkennen, auch wenn sie nicht aus dem ukrainischen Ruhrgebiet stammen oder wie ich Jiddisch sprechen. Widerspruch und Aufgeregtheit sind ausdrücklich erwünscht. Die meisten werden überrascht, irritiert oder vielleicht auch fasziniert sein, wenn sie lesen, wie das Land der Dichter und Denker durch die Augen eines gewissen Herrn Mihail Groys aussieht. Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Dieser wunderbare Titel eines Sachbuchs des Philosophen Richard David Precht, der im Zuge des Ukrainekriegs zum Militärexperten mutierte, passt auch auf meine Person.

Doch als wer schreibe ich? Der Untertitel verrät schon zu Beginn drei Dinge über mich: Ich bin Jude. Ich komme aus der Ukraine. Ich lebe in meiner deutschen Heimat. Mein Blickwinkel ist daher jüdisch und ukrainisch, aber natürlich auch deutsch. Allerdings beschränke ich meine Person nicht auf diese Identitäten und Themenfelder. Ich bin darüber hinaus studierter Verwaltungswissenschaftler, Sozialdemokrat, Zigarrenraucher, Foodie und aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens. Wer, wie ich, in Deutschland Sozialwissenschaften studiert, kommt nicht darum herum, sehr unterschiedliche Berufserfahrungen zu machen: Ich konnte im Berliner Parlament, bei der Arbeit als politischer Krisenberater in der Musikindustrie, als Angestellter in einer kommunalen Verwaltung und einer diplomatischen Vertretung sowie aktuell als politischer Referent in einem Verband eine große Palette an Erfahrungen sammeln, die ebenso in dieses Buch eingeflossen sind.

An der Universität, in der Politik, bei der Arbeit und in der Freizeit begegnete ich vielen Menschen, mit denen ich faszinierende Gespräche über ihre Perspektiven auf das Miteinander hierzulande führte. Manchmal hätten diese widersprüchlicher nicht sein können.

In einigen fand ich mich selbst wieder, andere lehnte ich vehement ab. Ich bin Gott oder für diejenigen, die nicht an ihn glauben, dem Schicksal sehr dankbar, so viele interessante Personen getroffen zu haben. Meine deutsche Geschichte ist ein großes Puzzle, in dem auch diese Erzählungen einen festen Platz haben.

Was die jüdische Identität angeht, zweifelsfrei die prägendste von allen, kam mir der Begriff »Ureinwohner« in den Kopf. Im Jahr 2021 lebten Jüdinnen und Juden nachweislich seit 1700 Jahren in dem Gebiet, das heute Deutschland heißt. Somit ist das Judentum ein Dutzend Jahrhunderte länger auf deutschem Boden präsent als das Christentum. Jüdische Gemeinden befanden sich hier kontinuierlich seit der Spätantike über das frühe Mittelalter und alle Epochen hinweg bis zur Moderne. Wenn wir Karl den Großen im 8. Jahrhundert als Anfang dessen nehmen, was Deutschland heute ist, waren wir Juden in Deutschland schon längst da. Das Volk der Deutschen, das aus frühmittelalterlichen Großstämmen rund um das Jahr 1000 entstand, ist unzertrennbar mit der jüdischen Geschichte vor Ort verbunden.

Als ich einem afro-deutschen Freund davon erzählte, dass ich in meinem Buch die Ureinwohnerschaft der Juden in Deutschland thematisiere, sagte er begeistert, wie sehr dies doch den wahren Kern trifft: »Ihr lebt hier doch seit Ewigkeiten. Natürlich seid ihr Ureinwohner dieses Landes und könnt euch so nennen, trotz allem, was euch hier widerfahren ist.« Mein Verständnis dieses Begriffs ist inklusiv und beruht nicht auf der völkischen Argumentation, wonach die ethnische Herkunft entscheidend ist, sondern auf der realen Präsenz. Auch wenn sich die jüdische Herkunft unbestritten im Nahen Osten begründet, im heutigen Israel, kann man nach 1700 Jahren guten Gewissens davon sprechen, ein deutsch-jüdischer Ureinwohner zu sein, finde ich. Online-Plattformen wie MyHeritage, die es Menschen ermöglichen, ihre Familiengeschichte zu erforschen, Stammbäume zu erstellen und genetische Ahnenforschung durchzuführen, können behilflich sein, diese Wurzeln zu ermitteln.

In diesem Buch verwende ich zudem mehrfach das Wort »Aschkenas«. Das ist eine Sammelbezeichnung für west- und osteuropäische Juden, deren Herkunft sich im Gebiet des heutigen Deutschlands verorten lässt. Ich bin ein aschkenasischer Jude mit Wurzeln in deutschen Landen. Hier sind bedeutende historische Stätten wie die jüdischen Friedhöfe in Worms und Mainz, die mittelalterliche Synagoge in Speyer sowie Überreste alter jüdischer Viertel zu finden. Solche Zeitzeugnisse haben dazu beigetragen, dass diese Städte heute als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt sind.

Mihail Groys: »Meine deutsche Geschichte: Wie ich als ukrainischer Jude meine neue Heimat sehe«. ZS, Hamburg 2025, 176 S., 22,99 € Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags

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