Interview

»Die Lage hat sich verschärft«

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Foto: picture alliance / photothek

Herr Haldenwang, wie bedroht sind jüdische Einrichtungen in Deutschland?
Wir beobachten schon seit langem einen kontinuierlichen Anstieg antisemitischer Propaganda und Aktivitäten in fast allen unseren Beobachtungsbereichen. Seit dem barbarischen Terrorangriff der Hamas haben antisemitische Straftaten nochmal deutlich zugenommen. Seit dem 7. Oktober rufen unterschiedliche extremistische Akteure vermehrt zu Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden auf. Jüdisches Leben in Deutschland steht unter dem besonderen Schutz des Staates. Auch bei der letzten Innenministerkonferenz wurde nochmals ausdrücklich bekräftigt, dass die Sicherheitsbehörden alles dafür tun, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher leben können und jeder Form von Antisemitismus konsequent entgegengetreten.

Nach den Massakern der Hamas haben vor allem Islamisten Juden hierzulande attackiert. Geht die größte Gefahr noch immer von Rechtsextremisten aus?
In der Vergangenheit war insbesondere der rechtsextremistische Antisemitismus ein Gefahrenschwerpunkt. Ich erinnere nur an den Anschlag auf die Synagoge in Halle. Antisemitismus und Israelfeindlichkeit ziehen sich quer durch verschiedene Extremismusbereiche. Seit dem Angriff der Hamas hat sich die Lage verschärft. Islamisten, deutsche und türkische Rechts- und Linksextremisten und Anhänger pro-palästinensischer Organisationen agitieren, mobilisieren und agieren gegen Israel und Menschen jüdischen Glaubens.

Bei den Pro-Palästina-Demos marschieren Islamisten zusammen mit Links- und Rechtsextremen. Warum ist ausgerechnet Antisemitismus der Kitt, der diese Gruppen offensichtlich zusammenhält?
Antisemitismus ist schon lange eine Gemeinsamkeit von verschiedenen Demokratiefeinden. Dabei werden »die Juden« als vermeintliche Einheit deklariert, die weltweit Kontrolle über Politik und Wirtschaft ausüben. Soziale Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Antisemitismus. Im Netz kursieren zahlreiche antisemitische Verschwörungstheorien, Falschinformationen und verzerrte Darstellungen, die sowohl gegen Israel als auch gegen den deutschen Staat gerichtet sind. Schon während der Corona-Pandemie wurden die krudesten Verschwörungsnarrative verbreitet, die oft einen antisemitischen Hintergrund aufwiesen.

Erhöht dieser augenscheinliche Schulterschluss die Gefahr für Juden Deutschland?
Von einem Schulterschluss im Sinne einer Querfront kann man nicht sprechen. Es existiert aber ein gemeinsames Feindbild. Fake News und Trigger-Ereignisse führen darüber hinaus zu einer hohen Emotionalisierung auf pro-palästinensischer Seite. Sie können zur Radikalisierung beitragen und einzelne Personen zu Taten inspirieren.

Auf den Demos tauchten zuletzt immer mehr Querdenker und Corona-Leugner auf. Warum werden aus »Maßnahmen-Kritikern« plötzlich »Israelkritiker«? Welche Agenda verfolgen die Querdenker bei den Palästina-Demos?
Zunächst möchte ich betonen, dass das Spektrum der Delegitimierer äußerst heterogen ist und es keine einheitliche Position zum aktuellen Konflikt gibt. Es zeigt sich aber einmal mehr die Flexibilität von Verschwörungstheorien. So werden aktuelle Geschehnisse in bereits bestehende verschwörungstheoretische Narrative wie »Great Reset« oder auch der »jüdischen Weltverschwörung« integriert. Der Angriff der Hamas sei je nach Lesart Teil des Plans zur Erringung einer »jüdischen Weltherrschaft«, der Herbeiführung des Weltuntergangs oder eine Strategie der »Zionisten« zur Expansion Israels. Videos von Entführungen und Morden der Hamas seien entweder gefälscht oder Teil von »satanistischen« Ritualen. Die Hamas sei ursprünglich durch Israel bzw. »die Juden« selbst als Instrument ihrer Pläne erschaffen worden, die Offensive im Gaza-Streifen und die Palästinenser lediglich Werkzeuge zur Schaffung neuer Flüchtlingsströme nach Europa.  

Seit dem Abklingen der Corona-Pandemie versuchen Personen aus dem Phänomenbereich »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«, also sogenannte »Querdenker« und »Corona-Leugner«, sich gesellschaftspolitisch virulente Themen zu erschließen. Aufgegriffen wurden Themen wie der Krieg in der Ukraine, die Inflation oder die Energiekrise, ohne dass dies vergleichbare Mobilisierungswirkung wie zu Zeiten der Corona-Pandemie entfalten konnte.

Wie viele ihrer Anhänger können sie denn für die neue Sache überhaupt gewinnen?
Das lässt sich nicht prognostizieren und hängt von der weiteren Entwicklung ab.

Während einige die Massaker der Hamas als Widerstand gegen Israel verharmlosen, leugnen andere, dass sie überhaupt verübt wurden. Wie ist das möglich, wenn die Terroristen ihre Verbrechen selbst stolz gefilmt haben?
Die Behauptung, dass von Tätern stammende Beweise und Belege für Verbrechen inszeniert, manipuliert und gefälscht seien oder aus gänzlich anderen Kontexten stammten und gar nicht das zeigten, was behauptet würde, ist kein neues Phänomen. Ähnliches wird von Holocaustleugnern bereits seit vielen Jahrzehnten praktiziert. Es ist ein Problem, dass sich viele Menschen nur in ihrer Blase im Netz bewegen und in diesen Echokammern eine Verstärkung ihrer Ansichten erfahren.

Wie kann man Menschen von Verschwörungstheorien abbringen, wenn sie sich nicht einmal von Videobeweisen überzeugen lassen?
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Umfassende Aufklärung und Klarstellung ist zwingend notwendig. Das muss bereits in der Erziehung und in der Schule beginnen. Wichtig ist, dass jede und jeder Einzelne solchen Narrativen entschieden entgegentritt.

Die Fragen an den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz stellte Nils Kottmann.

Meinung

Sánchez missbraucht ein Radrennen für seine Israelpolitik

Dass Spaniens Regierungschef die Störer der Vuelta lobte, ist demokratieschwächend und gehört zu seinem Kalkül, Israel weltweit zu isolieren

von Nicole Dreyfus  17.09.2025

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

Zentralrat

Schuster: Zwei-Staaten-Lösung nach Friedensverhandlungen mit Israel

Ein jeweils selbstständiger Staat Israel und Palästina - dafür spricht sich auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland aus. Unter bestimmten Voraussetzungen

von Leticia Witte  17.09.2025

Köln

Antisemitische Ausschreitungen bei Kreisliga-Spiel

Spieler des Vereins Makkabi wurden offenbar beschimpft, bespuckt und körperlich attackiert

 17.09.2025

Antisemitismus

Berliner Treitschkestraße wird am 1. Oktober umbenannt

Der Straßenname erinnert künftig an die im KZ Theresienstadt gestorbene ehemalige Direktorin des früheren jüdischen Blindenheims von Steglitz, Betty Katz (1872-1944)

 17.09.2025

Kritik

Toni Krahl hat »kein Verständnis« für israelfeindliche Demonstrationen

Was in der Region um Israel passiere, sei ein Drama, das sich über Jahrzehnte entwickelt habe, sagte Krahl

 17.09.2025

Berlin

Ahmetovic: Berlin muss Weg für Israel-Sanktionen freimachen

Der SPD-Politiker fordert, dass die schwarz-rote Koalition ihre »Blockadehaltung« beendet und die Vorschläge von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für konkrete Maßnahmen gegen den jüdischen Staat unterstützt

 17.09.2025

München

Dirigent Shani kritisiert Konzertabsage durch Festival in Belgien

Der israelischen Dirigent hat zu dem Vorfall geschwiegen - bis jetzt

von Britta Schultejans  17.09.2025

Kommentar

Die Genozid-Lüge

Wie die Hamas nach dem 7. Oktober vom Täter zum Opfer wurde – und Israel zur Verkörperung des Bösen schlechthin

von Stephan Lehnstaedt  16.09.2025