Wie es scheint, will heutzutage jeder Opfer eines Genozids gewesen sein. Zahlreiche Gruppen und Nationen bemühen sich um internationale Anerkennung. Genozid gilt spätestens seit den 90er-Jahren als das Böse schlechthin. Wer ihm ausgesetzt war, kann für sich eine Position moralischer Überlegenheit reklamieren.
Das Ziel ist eine möglichst hohe Position im internationalen Opferdiskurs. Die Schoa als fraglos bekanntester Genozid steht nicht ohne Grund ganz oben in der Hierarchie: In einer antisemitisch konnotierten Argumentationskette wird unterstellt, »die Juden« hätten nach 1945 von einer Sonderstellung als Opfer profitiert. Umgekehrt würde die westliche Geschichtspolitik, die diesem Völkermord eine zentrale Rolle zuweist, mehr oder minder absichtsvoll das Leid anderer Nationen verschweigen oder zumindest herunterspielen.
Status als Opfer versus Frage nach Schuld und Täterschaft
In den meisten Fällen geht es um den Status als Opfer, die Frage nach Schuld und Täterschaft spielt dabei eine viel geringere Rolle. Auch in dieser Hinsicht ist der aktuelle Genozidvorwurf gegen Israel wegen des Krieges im Gazastreifen besonders: Die Hamas wird vom Täter zum Opfer, der jüdische Staat einmal mehr zur Verkörperung des Bösen schlechthin, weil er angeblich einen Völkermord verübt.
Und weil erstaunlicherweise anscheinend heute jeder ein Genozid-Experte ist, sind die Fronten schnell geklärt. Völlig egal scheint es, dass Genozid als juristische Kategorie in einer UN-Konvention 1948 beschlossen und darin definiert wurde. Der Begriff ist übrigens in Deutschland gleichlautend im Völkerstrafgesetzbuch normiert.
Ein Schuldspruch erfolgt deshalb in einem Gerichtsverfahren mit Beweisen und auch mit einer Verteidigung. Persönliche Meinungen, wie und was ein Genozid sein könnte, sind eben das: Glauben statt Wissen, das unterschwellig oft noch mit einer Nivellierung deutscher Verantwortung einhergeht, frei nach dem Motto: Der Holocaust ist lange her, heute sind die Juden die Täter.
Der Vorwurf basiert nicht auf Empirie. Es handelt sich um eine apodiktische Schuldzuweisung.
Selbstverständlich steht dem eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über einen angeblichen Genozid im Gazastreifen nicht entgegen. Aber sie folgt anderen Regeln und hat andere Ziele, denn es geht um Erkenntnisgewinn auch und gerade durch kontroversen Streit um das bessere Argument. Interdisziplinäre Genozidforschung kann wichtige Befunde und Beobachtungen liefern, die dann in einem Prozess genutzt werden.
Apodiktische Schuldzuweisung
Freilich bedarf es dafür der ehrlichen Absicht, tatsächlich nach Erkenntnissen zu streben; eine Deklaration, wie sie zuletzt die »International Association of Genocide Scholars« vorgelegt hat, ist dazu eher nicht geeignet. Sie trägt keine Argumente vor, analysiert keine Dokumente oder Zeugenaussagen, sondern trifft eine apodiktische Schuldzuweisung.
Die mehr als 300 Seiten umfassende Studie der Bar-Ilan-Universität, die keinen Genozid-Tatbestand erkennt, ist da ein ganz anderes Kaliber. Wer es anders sieht, möge sie falsifizieren – das wäre Wissenschaft, und angesichts des nach wie vor andauernden Krieges kann das letzte Wort noch gar nicht gesprochen sein.
Umso wichtiger wäre eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Genozidforschung. Raphael Lemkin, der im Jahr 1944 den Neologismus »Genozid« schuf, tat dies in einer fast 700-seitigen Studie zum besetzten Europa im Zweiten Weltkrieg, an der er vier Jahre gearbeitet hatte. Das meiste Material dafür hatte der jüdische Jurist nach der Flucht aus Polen während seines Exils in Stockholm in den Jahren 1940 bis 1941 zugsammengetragen, bevor er es in den USA in einem Buch zusammenführte. Seine überaus substanzielle Arbeit, die Lemkin vor dem Hintergrund des Holocaust und zudem einer eingehenden Beschäftigung mit dem Völkermord an den Armeniern schrieb, wurde 80 Jahre lang nicht ins Deutsche übersetzt (eine vom Verfasser besorgte Ausgabe erscheint Anfang 2026).
Intention der Täter
Ein Grund dafür ist sicher Lemkins präzise Argumentation. Ähnlich wie später die maßgeblich von ihm geprägte UN-Konvention definiert er Völkermord – und weist ihn nach – nämlich nicht über die Anzahl der Toten, sondern über die Intention der Täter: Zentral ist die »Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«, wie das Völkerstrafgesetzbuch sagt.
Wer heute nach Gaza schaut, sollte klar erkennen, dass es Israel um die Befreiung von Geiseln und den Kampf gegen die Hamas geht – einer Organisation, deren erklärtes Ziel ein Genozid ist: nicht nur die Auslöschung Israels, sondern auch die Vernichtung der Juden.
Der Autor ist Professor für Holocaust Studies and Jewish Studies an der Touro University Berlin.