Interview

»Reflektiert die tatsächlichen Machtverhältnisse innerhalb der Hamas«

Gerhard Conrad war bis zu seiner Pensionierung beim Bundesnachrichtendienst tätig Foto: IMAGO/teutopress

Herr Conrad, letzte Woche wurde Hamas-Chef Ismail Haniyeh in Teheran getötet. Viele vermuten, dass Israels Auslandsgeheimdienst Mossad dahintersteckt. Sie auch?
Die Annahme ist jedenfalls plausibel. Es gibt weltweit nicht viele Geheimdienste, die in der Lage wären, solche Operationen, noch dazu im Iran, durchzuführen. Israel hat seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder klargemacht: Kein Hamas-Verantwortlicher wird diese epochale Schandtat überleben, sie alle sind »dead men walking«. Und wenn die israelische Führung so was sagt, meint sie das meist auch so.

Hat Sie das überrascht, dass das Ganze ausgerechnet in einem gut gesicherten Gästehaus der iranischen Revolutionsgarden stattfinden konnte?
Nicht wirklich. Israel hat ja schon einige Husarenstücke im Iran vollbracht. Operativ reichen im Grunde auch wenige Leute aus, um eine ferngezündete Bombe zu verstecken, es müssen eben nur die richtigen sein. Hinzu kommt: Der Mossad hat vermutlich von allen Geheimdiensten die besten Quellen im Iran. Er wird sein Netz in den letzten Jahrzehnten - allein schon im Interesse des Schattenkriegs gegen das iranische Nuklearprogramm - immer weiter ausgebaut haben. Das liegt auch daran, dass Israel und der Iran unter dem Schah ein sehr enges Verhältnis hatten, und das keineswegs nur auf Regierungsebene.

Das ist aber schon 50 Jahre her, die Leute von damals leben ja nicht mehr...
Nein, aber ihre Kinder schon. Kontakte können auch über die Generationen hinweg gepflegt werden. Denken Sie auch daran, dass der Iran ein Vielvölkerstaat mit zahlreichen ethnolinguistischen und religiösen Bruchlinien ist. Es gibt genug Menschen, selbst im Sicherheitsapparat und bei den Revolutionsgarden, die sich schlecht behandelt fühlen. Manche werden in der Tasche die Hand zur Faust geballt haben und dem Regime von innen schaden wollen. Jedenfalls sind das Regime und seine Sicherheitskräfte nicht immun gegen Unterwanderung, das hat man in der Vergangenheit ja schon mehrfach gesehen.

Die israelische Regierung hat bislang nie eine Mossad-Operation im Iran kommentiert.

Steht die iranische Führung jetzt nicht blamiert da?
Aber sicher. Für jedes Sicherheitsestablishment ist ein solcher Anschlag im sondergeschützten Bereich ein Tiefschlag. Je selbstbewusster der Auftritt, wie etwa der der Revolutionsgarden, desto peinlicher ist so ein Vorfall. Deswegen wurden jetzt schon einmal allerhand Leute verhaftet, von denen die meisten wahrscheinlich mit dem Anschlag nichts zu tun hatten.

Gehen die eigentlichen Täter nicht ein enormes Risiko ein?
Ja. Deswegen machen sie sich meist sofort vom Acker oder werden exfiltriert. Das müsste Teil des Operationsplans sein. Die Revolutionsgarden schauen wahrscheinlich gerade ihre Listen durch, um zu prüfen, wer ihnen in den letzten Monaten so alles abhandengekommen ist.

Warum bekennt sich Israel nicht zur Tötung Haniyehs? Beim Angriff auf Hisbollah-Kommandeur Fuad Shukr in Beirut nur wenige Stunden tat es das doch auch.
Das liegt daran, dass der Iran – bei aller Feindschaft – ein Staat ist, mit dem sich Israel nicht offiziell im Kriegszustand befindet. Bei der Hisbollah im Libanon ist das anders; der direkte militärische Schlagabtausch ist hier bekanntlich Routine. Die israelische Regierung hat meines Wissens bislang nie eine mutmaßliche Mossad-Operation im Iran kommentiert. Auf dem Territorium eines anderen Landes in dieser Form zu operieren, ist eine klare Verletzung der staatlichen Souveränität. Spionieren wird nach dem Völkergewohnheitsrecht noch toleriert, Leute umbringen aber nicht. Dennoch: Anders als bei Katar oder der Türkei bietet sich zumindest aus israelischer Sicht die Islamische Republik für eine solche Operation am ehesten an, denn mit ihr bestehen keinerlei Beziehungen, auf die man Rücksicht nehmen müsste.

Wird der Iran mit einem direkten Angriff auf Israel antworten? Bislang hat er das ja nicht getan.
Davon muss man weiter ausgehen. Die Frage ist, wie dieser Gegenschlag ausfällt. Der letzte vor einigen Monaten war ja ebenso präzedenzlos wie letztlich wirkungslos. Fast alle Drohnen und Raketen wurden abgefangen. Das war auch kein Wunder, denn gerade die Drohnen waren stundenlang unterwegs. So etwas darf aus Sicht Teherans nicht mehr passieren. Man will zwar wohl weiterhin keinen umfassenden Krieg gegen Israel, ist aber allein schon aus Gründen der Selbstachtung zum »Erfolg« verurteilt. Und es wird nicht als Erfolg gewertet werden, wenn in Israel nur eine Mülltonne getroffen wird.

Sie erwarten also eher einen Angriff aus der Nähe - oder auch aus dem Iran?
Beides. Ein massiver Angriff aus dem Libanon mit kurzer Vorwarnzeit und dem Versuch, die Luftabwehr zu saturieren, könnte Lücken im Abwehrschirm für Mittelstreckenraketen aus dem Iran schaffen. Bereits im April waren das die einzigen Waffen, die in den israelischen Luftraum eingedrungen waren.

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Glauben Sie, die USA, Jordanien und andere, die jetzt beim letzten Mal halfen, iranische Geschosse zu neutralisieren, werden dies wieder tun?
Ja, das haben sie auch so angekündigt. Die Absprachen dafür sind da. Auch, wenn die Ägypter angekündigt haben, Israel nicht helfen zu wollen, haben sie klar gemacht, dass sie den eigenen Luftraum schützen werden. Und das läuft im Ergebnis auf dasselbe hinaus.

Wenn jetzt ein größerer Schlag kommt und vielleicht sogar ein offener Krieg zwischen Israel und dem Iran beginnt, hat sich Israel dann am Ende nicht nur unnötigen Ärger eingehandelt?
Das ist eine Frage der Güterabwägung. Sie können hier auch im Sinne der strategischen Selbstbehauptung und der Abschreckung argumentieren. Sie wissen, dass es in Israel, im Übrigen auch in den USA, Denkschulen gibt, die eine massive, konsequent durchzufechtende militärische Konfrontation mit dem Iran für unvermeidlich halten.

Was konkret hat Israel vom Tod Haniyehs – außer die Aussicht auf einen gefährlichen iranischen Gegenschlag?
Haniyeh war neben Yanya Sinwar, dem bisherigen Chef in Gaza und Planer des 7. Oktober, die zentrale politische Führungsfigur der Hamas. Sicher war seine Position innerhalb der Organisation nicht ganz so dominant wie die Hassan Nasrallahs in Hisbollah, denn die Hamas ist relativ stark horizontal in verschiedenen Führungsgremien strukturiert. Von einem sogenannten »Enthauptungsschlag« kann man hier also nicht ausgehen. Haniyehs gewaltsamer Tod ist aber eine knallharte Machtdemonstration Israels. Die Sicherheitsmaßnahmen werden wahrscheinlich jetzt verdoppelt werden. Damit verbunden ist ein erhöhter psychologischer Druck auf die Schutzpersonen. Das geht bis hin zur Paranoia.

Jetzt wurde Sinwar selbst zum Nachfolger Haniyehs als Chef des Politbüros ernannt. Was bedeutet das für die Hamas?
Es reflektiert letztlich die tatsächlichen Machtverhältnisse innerhalb der Hamas. Bereits zuvor war ja für alle ersichtlich gewesen, dass Sinwar die letzte Entscheidung in allen Geisel- und Waffenstillstandsfragen hatte. Und er verfügte von Anfang an auch über alle relevanten Machtmittel. Die anderen Hamas-Gremien im Ausland versuchen, sich mit dieser Nominierung erst einmal aus der weiteren operativen Verantwortung zurückzuziehen. Organisatorisch rückt jetzt Ägypten weiter in den Mittelpunkt, da nur von dort aus die Kommunikation mit Sinwar möglich sein wird.

Glauben Sie, Sinwar wird wie Haniyeh 2017 den Gazastreifen verlassen und ins Ausland gehen?
Es wäre schon eine Überraschung, wenn Sinwar sich außerhalb von Gaza blicken lassen würde. Vielleicht kann er das insgeheim in Ägypten, jedoch nur, wenn sich hierfür eine unmittelbare Notwendigkeit ergäbe. Gleichzeitig kann er nun aber noch mehr als zuvor sein Schicksal und das der Hamas mit dem Schicksal der Geiseln verknüpfen und eventuell auch neue Formen der Erpressung zur Durchsetzung seiner Forderungen versuchen. Die Formate und Parameter für Konfrontation, Kommunikation und Verhandlungen werden jetzt jedenfalls neu definiert werden.

Die Hamas ist als unmittelbare grenzüberschreitende militärische Bedrohung Israels weitgehend unter Kontrolle.

Sie waren selbst einmal Unterhändler in Geiselverhandlungen mit Hisbollah und Hamas. Manche sagen, es gehe nichts voran, weil Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mauert. Sie auch?
Es hat so zumindest den Anschein. Die Geiselbefreiung kann aus seiner Sicht erklärtermaßen nicht um den Preis erfolgen, dass die Hamas organisatorisch in Gaza überlebt. Wie das dann aber mit der Befreiung der Geiseln funktionieren soll, weiß so recht keiner. Es sei denn, es wäre eben möglich, die Hamas militärisch so niederzukämpfen, dass die Überlebenden zum Schluss bereit wären, gegen freies Geleit die Geiseln zu überstellen.

Ist das eine realistische Option?
Das ist sehr fraglich. Die meisten Profis gehen davon aus, dass man einen Kompromiss wird schließen müssen mit Sinwar in Gaza oder vorzugsweise mit seinem Nachfolger, um die Geiseln freizubekommen. Schon jetzt ist die Hamas als unmittelbare grenzüberschreitende militärische Bedrohung Israels weitgehend unter Kontrolle. Will man nun so lange weiterkämpfen, bis es keine Miliz- und Untergrundstrukturen mehr gibt? Falls ja, wird man wohl noch lange beschäftigt sein und weitere Soldaten opfern müssen.

Netanyahu kann also nicht verkünden: »Mission accomplished«?Jedenfalls nicht kurzfristig. Vielleicht symbolisch, falls Sinwar zu Tode kommt. Aber selbst dann bliebe die Frage nach dem »Day after« unbeantwortet.

Was können die Europäer, was können die Deutschen tun? Es gibt ja immer wieder Appelle für eine Deeskalation. Aber kann auch Druck ausgeübt werden?
Ganz ehrlich, ich wüsste nicht wie. Der Iran wird sich im Augenblick nur abschrecken lassen, wenn er sich selbst über die für ihn bestehenden massiven Risiken klar wird und diese ernst nimmt. Welche konkret wirksamen realpolitischen Hebel Europa im Vergleich zu den USA, aber auch Israel selbst, einbringen könnte, erschließt sich mir nicht. In Betracht kommen könnte allenfalls eine wirksame Beteiligung an einer integrierten militärischen Sicherung des israelischen Luftraums.

Massive Risiken drohen möglicherweise auch hierzulande. Vor zwei Jahren wurde im Auftrag der Revolutionsgarden ein Brandanschlag auf die Synagoge in Bochum verübt. Glauben Sie, dass wir in nächster Zeit mehr solche Aktionen sehen werden auf jüdische und israelische Ziele in Europa?
Wir sollten uns vorsichtshalber darauf einstellen. So ein Anschlag muss auch nicht immer direkt von Iran gesponsort sein. Auch Hamas und Terrorgruppen wie ISIS und Al-Kaida könnten angesichts der zugespitzten, ja auch islamistisch konnotierten Konfrontation wieder mehr Aktionen durchführen. Die entsprechende Agenda haben sie alle, jede für sich.

Müssen wir uns auf einen heißen Herbst einstellen?
Im Grunde ja, insbesondere, wenn sich die Lage in Nahost weiter zuspitzt. Man kann das im Einzelnen nur schwer prognostizieren. Aber das Potenzial für Konflikte wächst generell in Europa, wie aktuell der Blick nach Großbritannien zeigt.

Das Gespräch mit dem ehemaligen BND-Angehörigen, Geiselunterhändler und ehemaligen Leiter des Intelligence Assessment Centre der Europäischen Union (INTCEN) führte Michael Thaidigsmann.

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