NS-Verbrechen

Der lange Weg zum Gedenken

Staatsminister Michael Roth (M.) am Montagabend im Auswärtigen Amt Foto: Auswärtiges Amt

Die letzten Prozesse» war die Veranstaltung überschrieben. Eingeladen hatte das Auswärtige Amt in Berlin am Montagabend in seine repräsentative Bibliothek, und aus Anlass des Jahrestags der Novemberpogrome 1938 wollte man sich, so der Untertitel des Programms, der «rechtlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus» widmen.

Der Auschwitz-Überlebende Leon Schwarzbaum war gekommen, und mit ihm der Rechtsanwalt Thomas Walther, der viele Nebenkläger vertrat, wenn es darum ging, die Verbrechen in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern juristisch aufzuarbeiten. Für das geschichtswissenschaftliche Setting sorgten die Historiker Hans-Christian Jasch, Leiter der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, und Stefan Hördler, Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

erinnerung Der 95-jährige Leon Schwarzbaum erinnerte in bewegenden Worten an die Hölle, die er als Einziger seiner Familie überlebte. Er erzählte, wie eines Tages seine Eltern von der SS zu Hause abgeholt wurden. «Mit dem Kolbengewehr wurde die Tür aufgebrochen», sagte er. Er sei verzweifelt gewesen und habe sich das Leben nehmen wollen.

Vier Wochen nach der Deportation seiner Eltern verschleppte die SS auch ihn nach Auschwitz. Zufälle wie der, dass er als Läufer des Lagerältesten fungierte, retteten ihm das Leben. Und in dieser Funktion, als jemand, der im ganzen Lager herumkam, um «Vorkommnisse» zu melden, erlebte er die Hölle in der Hölle: Wie ein SS-Offizier einem Soldaten befahl, ein etwa 16-jähriges Mädchen zu erschießen, der Soldat dies nicht tat, der Offizier daraufhin die Pistole an die Schläfe des Mädchens legte und abdrückte. Oder wie Inhaftierte, wissend, dass die Drähte unter Strom gesetzt waren, einfach gegen die Lagerzäune liefen – «weil sie das Leid nicht mehr ausgehalten haben».

Diese Hölle überlebte Leon Schwarzbaum, doch er wusste – und erzählte an diesem Abend in Berlin davon –, dass sein Überleben nicht vorgesehen war. Sein Anwalt Thomas Walther berichtete vom Auschwitz-Prozess in Detmold, wo Schwarzbaum Nebenkläger war und der Angeklagte Reinhold Hanning zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Dort stellte das Gericht fest, dass in Auschwitz das «Töten durch die Lebensverhältnisse» die Normalität war. Deswegen – und das ist eine erst seit 2011 in Deutschland übliche Rechtssprechungspraxis – ist es unmöglich, die Schuld eines angeklagten SS-Mannes nur bei, wie es früher hieß, «konkretem Tatnachweis» feststellen zu wollen. «Es war systematisches Verhungernlassen», so Thomas Walther. «Das Wort ›Todesfabrik‹ kommt im Urteil von Detmold expressis verbis vor.»

rechtsprechung Dieses Wissen über Auschwitz, so trugen es die Historiker Jasch und Hördler vor, ist erst seit wenigen Jahren, bestenfalls wenigen Jahrzehnten in der deutschen Öffentlichkeit präsent. In der deutschen Rechtsprechung war dies noch später der Fall. Über Jahrzehnte hinweg galt die Schoa als eine Art «Kriegsverbrechen», vergleichbar mit anderen Gräueltaten, die in Kriegen passieren, wie Hans-Christian Jasch ausführte. Die Erkenntnis von der Einzigartigkeit der Schoa wurde wahlweise nicht an sich herangelassen oder schlicht geleugnet.

Der Historiker Stefan Hördler führte aus, welch hochgradig arbeitsteiliger Prozess die NS-Massenvernichtung war. Schon deshalb seien alle Versuche, sie auf wenige konkrete Täter, die als allmächtige Befehlshaber agierten, zu reduzieren, schlicht falsch. Hördler zeigte auch, welche großen Forschungslücken im vermeintlich so gut erforschten Komplex «Schoa» noch existieren. Hördler trug Beispiele fotografischer Quellen vor: Bilder von fröhlich feierndem Wachpersonal in Auschwitz etwa, auf denen auch solche Täter zu identifizieren sind, über deren Anwesenheit im Todeslager kein schriftlicher Akteneintrag existiert.

holocaust Das Seminar, in dessen Rahmen die Berliner Veranstaltung stattfand, richtet sich an Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, die an Dienstorten gesetzt sind, an denen es eine große jüdische Gemeinde gibt oder gab. Es fand 2016 erstmals statt. «Ziel ist ein verbesserter Austausch zu den Themen Antisemitismusbekämpfung, Erinnerung an den Holocaust und zu jüdischem Leben heute in Deutschland», heißt es im Auswärtigen Amt. Zudem soll es im Ausland Beschäftigten, die nicht regelmäßig nach Deutschland kommen, Gelegenheit geben, sich ein Bild von der aktuellen Situation in Deutschland zu machen.

Das Seminar geht auf Initiative des seit 2006 im Ministerium ansässigen Sonderbeauftragten für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen zurück, der sich auch um Bekämpfung des Antisemitismus und die Erinnerung an den Holocaust kümmert. Die Veranstaltung am Montagabend in Berlin war sowohl Teil dieses Seminars als auch ein Beitrag zum Gedenken an die Novemberpogrome und die Schoa.

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