Olympiaattentat 1972

»Das hat viel Herzblut gekostet«

Ankie Spitzer über ihren ermordeten Mann André und den jahrzehntelangen Kampf der Angehörigen um Aufklärung

von Jochanan Shelliem  28.08.2012 09:05 Uhr

»Ich sagte, ich liebe dich, bis morgen. Das war unser letztes Gespräch«: Ankie Spitzer vor einem Foto ihres Mannes André Foto: dpa

Ankie Spitzer über ihren ermordeten Mann André und den jahrzehntelangen Kampf der Angehörigen um Aufklärung

von Jochanan Shelliem  28.08.2012 09:05 Uhr

Frau Spitzer, im September 1972 sind Sie frisch vermählt und begleiten Ihren Ehemann nach München. André Spitzer ist Trainer der israelischen Fechter bei der Olympiade. Am 3. September aber sind Sie in Amsterdam?
Ich kam am selben Tag nach München wie die israelische Olympiamannschaft und reiste dann nach Amsterdam, wo meine Eltern unsere Tochter, die damals zwei Wochen alt war, hatten hüten wollen. Am 3. September fuhren wir nach Holland, weil unser Baby krank geworden war. Dann musste André zurück. Aber er verpasste den Zug nach München und es gab nur zwei Verbindungen am Tag. Ein Zug fuhr morgens, einer abends. Wenn er den Abendzug genommen hätte, wäre er erst nach dem Attentat in München angekommen, er wäre nicht als Geisel genommen und nicht getötet worden.

Wie haben Sie davon erfahren, was in der Nacht des 5. September 1972 geschah?
Es war meine erste Nacht ohne André. Zuvor hatte er mich aus München angerufen: »Ich werde im olympischen Dorf mein Bett suchen gehen.« Wir sagten all die Dinge, die ein junges Paar so sagt: Ich liebe dich, bis morgen und so weiter. Das war unser letztes Gespräch. Ich schlief im Hause meiner Eltern. Um sieben Uhr weckten sie mich. »Ankie, wie viele Leute gehören zur israelischen Delegation?« »25 oder 30. Aber warum fragt ihr mich all das um sieben Uhr in der Früh?« »Wir haben im Radio gehört, dass es einen Angriff auf das israelische Team im Olympischen Dorf gegeben hat.« Da sprang ich aus dem Bett. Etwa um halb zehn am Vormittag kam ein Anruf von der Botschaft in Den Haag. Man sagte mir, dass André unter den Geiseln sei und wir abwarten müssten. Ich habe also gewartet. Diese Olympiade war die erste, die live im Fernsehen übertragen worden ist. Und so habe ich alles am Bildschirm mit angesehen.

Was haben Sie gesehen?
Wir sahen das Gebäude und ich wusste ja, wo das Zimmer von André war. Um 17.30 Uhr erblickte ich André zum letzten Mal, als er am Fenster stand und dem Krisenstab als Sprecher der Geiseln berichtete, was geschehen war. Ich sah ihn nur, hörte ihn nicht, die Fernsehbilder brachten nicht seinen Ton, aber ich sah, dass er im Unterhemd dastand und seine Brille nicht trug. Ich fand das sehr entwürdigend, weil ich wusste, dass er kurzsichtig war. Die Hände waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden worden. Später habe ich Hans-Dietrich Genscher, damals Deutschlands Innenminister, und Bruno Merck, den bayerischen Innenminister, gefragt, worüber sie sprachen. Sie hatten ihn gefragt, wie es den Geiseln in dem Gebäude ginge. Und André hatte gesagt, bis auf einen ginge es allen gut. Dann fragten sie ihn: »Was ist mit ihm, und wer ist es?« Doch als André antworten wollte, wurde er hinter den Vorhang gezerrt. Er bezog sich auf Josef Romano, der in dem Zimmer gefoltert, getötet und kastriert worden war.

Kastriert?
Kastriert. Ich habe die Bilder gesehen. Es steht auch in seinem pathologischen Bericht. Das war das letzte Mal, dass ich André lebendig sah. Einerseits war ich froh, weil er noch am Leben war, andererseits wurde mir der Ernst der Lage klar. Dann begannen die Verhandlungen, und man konnte all die Fehler sehen, die die deutsche Polizei gemacht hat. Man hat Polizisten als Athleten in Trainingsanzügen mit Gewehren auf das Dach geschickt. Wenn ich die Bilder des Fernsehens empfangen konnte, konnten auch die Terroristen sie sehen. Dann wurden Polizisten als Köche verkleidet, die den Geiseln das Essen bringen sollten. Man dachte, dass man so in das Innere des Gebäudes kommen könnte, um es auszukundschaften. Doch die Terroristen sagten, wir sind nicht dumm. Ein Plan war dilettantischer als der andere.

Israel wollte die Spezialtruppe Sayeret Matkal nach München schicken. Doch die Deutschen weigerten sich. Man sah die Souveränität des Landes dadurch in Gefahr. Am Ende wurde Zvi Zamir, der Chef des Mossad, nach Deutschland gesandt. Er hatte aber keine Befugnisse, und man »vergaß« dauernd, ihn auf dem Laufenden zu halten oder an die Orte des Geschehens mitzunehmen. Einige Monate später, als ich mit Georg Wulf, dem Chef der Polizei des Flughafens Fürstenfeldbruck, sprach, sagte er mir auf meine Frage, warum man keine fremde Hilfe zugelassen habe: »Ihr Israelis habt den Terrorismus auf deutschen Boden gebracht.« »Nein«, entgegnete ich ihm. »Mein Mann und seine Freunde waren Sportler, sie kamen als Athleten in die Bundesrepublik, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen, nicht als Soldaten, sie hatten keine Waffen. Sie sollen den Terrorismus in die Bundesrepublik gebracht haben?« »Ja,« sagte er. »Sie haben den Terrorismus in die Bundesrepublik gebracht.«

Wer fühlte sich nach dem blutigen Ende der Geiselnahme zuständig? Welche Informationen gab man den Hinterbliebenen in Israel?
Nicht lange nach der schrecklichen Tragödie von München baten Ilana Romano, die Witwe des ermordeten Gewichthebers Josef Romano und ich um Informationen aus Deutschland. Wir fragten nach den pathologischen Berichten, den ballistischen Befunden und den Berichten der Ermittlungen. Nicht nur einmal, sondern 20 Jahre lang wurde uns mitgeteilt, dass es keine Dokumente dazu gäbe. Auch 1978, als ich Hans-Dietrich Genscher begegnete, der in München Innenminister gewesen war. Ich traf ihn in Tel Aviv um sechs Uhr morgens, weil er zunächst gesagt hatte, er habe keine Zeit, worauf ich ihm anbot, um vier Uhr früh, um fünf oder um sechs zu kommen, bevor er zum Flughafen fuhr. Um sechs also empfing er mich und sagte: »Ankie, es gibt keine Dokumente.« Ich sagte: »Schauen Sie, ich bin Holländerin, 25 Jahre lang bin ich Ihre Nachbarin gewesen, und ich weiß, dass in der Bundesrepublik alles dokumentiert wird. Ich weiß, dass es Untersuchungen gegeben hat, ich weiß, dass es Berichte gab, und wir wollen diese Information.« Er wiederholte, dass es nichts gäbe.

Jeder, den wir fragten, ob das Deutsche Olympische Komitee, das Internationale Olympische Komitee oder die bayerischen Behörden, alle sagten, da gäbe es nichts. 20 Jahre haben wir gebraucht, bis ich mich 1992 bei einem Interview im ZDF über die Verantwortungslosigkeit den Opfern gegenüber beklagte. Eine Woche nach dem Interview setzte sich ein Zuschauer aus Deutschland mit uns in Verbindung: »Sie haben recht. Ich arbeite im Archiv des Bayerischen Landgerichts, in dem sich die Dokumente befinden. Dort lagern Tausende von Akten.« Und er fragte: »Soll ich Ihnen Akten senden?« »Sicher«, sagte ich. »Ja.« Das tat er dann. So erhielten wir etwa 80 Seiten, die wir sofort zu einem privaten Ermittler brachten, der die Tinte überprüfte, sie war wirklich 20 Jahre alt, die Schreibmaschinenlettern wurden untersucht, und die Sendung war als Original verifiziert. Mit diesen wenigen Blättern in der Hand rief ich dann Klaus Kinkel an, der 1992 Außenminister geworden war. Ich flunkerte ein wenig: »Wir haben nun die meisten Akten und wir wollen den Rest.«

Um die Geschichte abzukürzen: Wir benötigten noch zweieinhalb Monate voller Anfragen und Interviews, bis es eines Tages eine Liveschaltung in einem Morgenmagazin gab, bei der ich mich in Tel Aviv der bayerischen Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner in München gegenübersah, die wie alle anderen Politiker abstritt, dass es diese Dokumente gab. Danach wurde ich zugeschaltet und sagte: »Frau Ministerin, warum gehen Sie nicht selbst in Ihr Archiv und sehen nach? Im ballistischen Bericht steht auf Seite 21 in Zeile vier dies und das. Dann habe ich hier das Dossier der Pathologie, wo auf Seite sechs unter Ziffer zwei Folgendes steht.« Darauf konnte sie nichts erwidern. Der Moderator lud sie für die folgende Woche wieder ein, um das Ergebnis zu verkünden. Und da musste sie öffentlich eingestehen, dass es diese Dokumente wirklich gab. Wir sandten unseren Anwalt daraufhin nach München, wo er mehr als 4.000 Akten entdeckte. Da war ein Raum, in dem sich an drei Wänden die Papiere vom Boden bis zur Decke stapelten. Dazu fanden sich 900 Aufnahmen aus der Pathologie. Damit wurde klar, wir haben einen Fall. Wir können gegen die Regierung klagen, gegen das deutsche Innenministerium, gegen die bayerische Staatsregierung, die Sicherheitsbehörden der Stadt München.

Als ich mit Ilana Romano sprach, sagte sie, in den Akten hätten sich auch Beweise gefunden, dass israelische Sportler von den Kugeln der deutschen Polizei getötet worden seien.
In den ballistischen Berichten fanden sich ein, zwei Fälle, die von tödlichen Verletzungen durch deutsche Kugeln sprachen. Wir haben aber daraus keine große Sache machen wollen. Wenn eine Befreiungsaktion abläuft, gibt es auch immer ein, zwei Kugeln, die ihr Ziel verfehlen. Das war uns nicht so wichtig. Wichtig war für uns zunächst einmal, zu verstehen, was da geschehen ist und wer für die Fehler verantwortlich war. So beschlossen wir, vor Gericht zu gehen und die Stadt München, den Freistaat Bayern und die Bundesrepublik Deutschland zu verklagen. Diese Verhandlungen zogen sich acht Jahre hin. Es hieß, die Sache sei verjährt. Da sagte ich, das kann man nicht erklären, nachdem die Akten 20 Jahre vor uns versteckt worden sind. Die Verjährungsfrist beträgt drei Jahre, wir hatten unsere Klage vor Ablauf eingereicht. Und nun sollte die Sache verjährt sein?

Wir zogen also vor das Landgericht, dann zum Oberlandesgericht und dann nach Karlsruhe, um die Verjährung aufzuheben. Acht Jahre später hatten wir das fast geschafft. Die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries bat uns daraufhin nach Berlin. Sie sagte, vor Gericht würden wir nie bekommen, was wir wollten. Sie würde jedoch mit uns verhandeln wollen, um einen Vergleich und eine Art von Kompensation zu finden. Diese Verhandlungen nahmen weitere Monate in Anspruch. Es hat nie eine Zeit gegeben, in der ich ärgerlicher gewesen bin als in den Monaten, da diese Frau Zypries die Verhandlungen steuerte. Das war ganz fürchterlich. Am Ende aber haben sie bezahlt.

Wie viel?
Die Bundesregierung zahlte eine Million, die Stadt München ebenfalls eine Million und die Regierung des Freistaats Bayern eine weitere Million Euro. Davon ging die Hälfte an die Rechtsanwälte, dann wurde durch 34 geteilt. Das Geld war aber eigentlich nicht wichtig. Es hat mein Leben nicht verändert. Das Geld hat uns als Vehikel für die Verantwortung gedient. Die Deutschen hätten nicht 30 Jahre nach dem Attentat gezahlt, wenn sie nicht eingesehen hätten, dass sie verantwortlich gewesen sind. Es hat weitere acht Jahre bis zu dem Besuch von Johannes Rau in Israel gebraucht, als er drei Jahrzehnte nach dem Attentat bei unserem Präsidenten Weizmann in Jerusalem aufgestanden ist und als deutscher Bundespräsident die Verantwortung für das Massaker übernommen hat. Warum aber haben wir über 30 Jahre darauf warten müssen, warum haben wir 20 Jahre um die Akten kämpfen müssen, 32 Jahre für eine Art von Kompensation? Das hat viel Herzblut gekostet.

Mit Ankie Spitzer sprach Jochanan Schelliem.

Ein Interview des Autors mit dem israelischen Geher Shaul Ladany, einem Überlebenden des Massakers von 1972, sendet der Deutschlandfunk am Sonntag, den 2. September, um 9.30 Uhr.

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