Social Media

Darum ist Antisemitismus auf Tiktok so virulent

Foto: picture alliance / NurPhoto

In kurzen Videos teilt Rica Allam auf Tiktok ihr Leben als Jüdin in Deutschland. Auf der Kurzvideoplattform erklärt die 31-Jährige ihren rund 36 000 Followern zum Beispiel was bei ihrer Familie am Schabbat auf den Tisch kommt, wie man Challah - ein Zopfbrot - in Regenbogenfarben backt, welche Traditionen zum jüdischen Sukkot-Fest gehören. Manche Videos werden nach Angaben der Plattform mehr als 100.000-mal angesehen.

Unter den Clips ist aber auch eine Aufnahme mit ernsterem Inhalt: Allam antwortet darin auf einen Kommentar, den jemand unter einem ihrer Videos hinterlassen hat. Sie solle ihre Familie in »München Buchenwald« besuchen, hatte eine Nutzerin in Andeutung auf das Konzentrationslager geschrieben. Allam antwortet knapp: »Das kann ich leider nicht machen, weil Buchenwald in Weimar ist«. Im KZ Buchenwald hielten die Nationalsozialisten zwischen 1937 und 1945 mehr als eine Viertel Million Menschen gefangen, etwa 56.000 von ihnen starben in Haft an den katastrophalen Bedingungen oder wurden getötet.

Zur Anzeige bringe sie derartige Kommentare meist nicht, sagt Allam im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. In diesem Fall aber doch. »Ich will gar nicht vor Gericht, das ist überhaupt nicht mein Ziel. Ich will nur, dass das vielleicht so ein Wake-Up-Call ist, dass man nicht alles im Internet posten kann und erwarten kann, dass das für alle okay ist.«

Die Idee zu den Tiktok-Videos hatte Allam, weil sie bei Mitmenschen oft auf Unwissen und Vorurteile gestoßen sei, wenn sie erzählte, dass sie Jüdin sei. Auch seien ihr keine deutsch-jüdischen Tiktoker bekannt gewesen. »Mit Tiktok kann ich doch richtig gut Einblicke in jüdisches Leben geben«, habe die Stuttgarterin sich dann gedacht.

Leitmedium einer jungen Generation

Für viele Nutzer ist die einstige Entertainment-Plattform längst auch Ort zur Weiterbildung. Organisationen und einzelne Content Creator, die Videos produzieren, wollen junge Leute dort erreichen, wo sie ohnehin viel Zeit verbringen - und wo oft auch Desinformation zu finden ist. Für Allam zählt zudem die Einfachheit. Auf Tiktok müsse man nicht viel schreiben oder planen, sagt sie. »Theoretisch kannst du auch einfach nur in die Kamera reden.«

Wie wichtig Tiktok für die politische Bildungsarbeit und den Kampf gegen Antisemitismus ist, weiß auch Eva Berendsen, Sprecherin der Bildungsstätte Anne Frank. »Tiktok ist das Leitmedium einer jungen Generation«, erklärt sie. Die Bildungsstätte will auf Tiktok mit der Aufklärungskampagne #GemeinsamgegenAntisemitismus sensibilisieren und antisemitischer Hetze und Verschwörungserzählungen entgegenwirken. Allam ist Teil der Kampagne.

Antisemitismus auf der Plattform

Auch wenn Antisemitismus auf Tiktok kein neues Phänomen sei, habe sich die Lage in den vergangenen Wochen dramatisch verschärft, erläutert Berendsen. »Das, was uns auf unseren For-You-Pages gerade angezeigt wird, ist zu einem großen Teil krasser Israel-Hass, krasser Antisemitismus, antisemitische Verschwörungstheorien in Bezug auf Israel und den Vergeltungsangriff auf den Gazastreifen«, sagt sie. Einzelne jüdische Tiktoker, die an der Aufklärungskampagne mitwirken, berichteten von teils massiven Anfeindungen.

Bei Tiktok gehe es oftmals um »hohes Tempo, Reizüberflutung und plakative Botschaften«, erklärt Berendsen. Das spiele vor allem Antidemokraten mit simplem Weltbild in die Karten. Die Bildungsarbeit stelle es hingegen vor enorme Herausforderungen. Denn ausgewogene, differenzierte Inhalte bräuchten oft mehr Zeit.

Gewaltvolle Inhalte laufen besser

»Die Plattformen bevorzugen Inhalte, die eine hohe Interaktion erzeugen - und das sind halt ganz oft hasserfüllte und gewaltvolle Inhalte«, erklärt Monika Hübscher. Sie forscht zu Antisemitismus in sozialen Netzwerken an den Universitäten Duisburg-Essen und Haifa. Antisemitische oder terroristische Inhalte würden von den Algorithmen weiterverbreitet, »selbst, wenn sie eigentlich gegen die Richtlinien der Plattformen verstoßen«. Mit Sorge blickt die Forscherin auf die aktuelle Flut an gewalttätigen Bildern aus dem Nahen Osten. Diese mischten sich mit gezielten Desinformationskampagnen verschiedener Akteure.

Dem Hass entgegensteuern

Von der Tatsache, dass positive Inhalte fast immer weniger Reichweite bekommen als negative, dürfe man sich aber nicht entmutigen lassen, meint Hübscher. Wichtig sei, hasserfüllte oder gar terroristische Bilder und Videos nicht zu kommentieren und stattdessen selbst online Solidarität mit Jüdinnen und Juden zu bekunden. »Wenn man das mit den richtigen Hashtags verbindet, kann man so auch Aufmerksamkeit generieren.«

Auch Susanne Siegert hält dort, wo Hass, Hetze und Desinformation oft kursieren, mit Aufklärung dagegen. Die 31-Jährige aus Leipzig informiert auf Tiktok über den Holocaust, richtet aber auch den Blick auf die Gegenwart - indem sie etwa erklärt, warum bestimmte Emojis oder Zahlencodes antisemitische Hintergründe haben. »Da sehe ich das meiste Diskussionspotenzial und die größte Reichweite, weil das im Leben von vielen jungen Menschen einfach eine große Rolle spielt.«

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel hat sich auch unter ihren Videos der Ton verschärft. Viele Kommentare lösche sie - »weil das Sachen sind, wo ich auf keine Diskussion eingehen möchte«, erklärt Siegert. Als Beispiel nennt sie Vergleiche, die Nutzer zwischen dem Holocaust und den Gegenangriffen Israels im Gazastreifen ziehen.

Appell an die Plattformbetreiber

Von Tiktok wünscht sich Siegert geradlinigere Richtlinien und mehr Konsequenz bei deren Durchsetzung. Immer wieder sehe sie NS-Symbole in Profilbildern oder Nazi-Parolen in Profilbeschreibungen, wo sie denke: »Das ist wirklich eindeutig antisemitisch: Warum funktioniert da das Moderationssystem nicht?«

Auch Tiktokerin Allam sieht die Plattform in der Pflicht, Videos mit offensichtlichen Falschinformationen kenntlich zu machen. Von den Nutzern wünscht sich Allam, »dass man den Creatorinnen ein bisschen die Last von den Schultern nimmt, dass sie sich bei dem Kampf in der Kommentarspalte nicht so ganz alleine fühlen«. Auch könnten Nutzer antisemitische Kommentare melden oder anzeigen.

Nahost

Israel: Wir stehen kurz vor Abschluss des Einsatzes in Gaza

US-Präsident Donald Trump sagte jüngst, dass es bald im Gaza-Krieg eine Waffenruhe geben könnte. Auch Israels Verteidigungsminister Katz äußert sich nun optimistisch

 30.06.2025

Debatte

Anti-Israel-Parolen: USA entziehen britischer Band Visa

Ein britischer Festivalauftritt mit israelfeindlichen Parolen wird live von der BBC übertragen. Der Sender steht unter Druck – und die USA kündigen an, der Band die Einreise zu verweigern

 30.06.2025

Interview

Nuklearforscher: »Das iranische Atomprogramm neu aufzubauen wird Jahre dauern«

Georg Steinhauser über die israelischen und amerikanischen Schläge gegen Atomanlagen im Iran, die Eigenschaften von Uran-235 und mögliche Szenarien für die Zukunft

von Michael Thaidigsmann  30.06.2025

Israel

Früherer Geheimdienstchef der israelischen Armee: Jerusalem musste das Atomprogramm der Mullahs stoppen

Im Juni 1981 war Amos Yadlin an der Zerstörung von Saddam Husseins Kernreaktor beteiligt. Nun hat er ausführlich über Israels Präventivschlag gegen das Mullah-Regime und den angeblichen »Völkermord« in Gaza Auskunft gegeben

von Imanuel Marcus  30.06.2025 Aktualisiert

Drohung

Iranische Zeitung fordert Todesstrafe gegen IAEA-Chef Grossi

Das staatliche Propagandablatt wirft Rafael Grossi vor, für Israel spioniert zu haben

 30.06.2025

Düsseldorf

Islamistischer Tiktok-Star gesteht Spendenbetrug

Der Islamist »Abdelhamid« hat unter seinen Followern Spenden »für Palästina« gesammelt und diese dann unter anderem für einen BMW ausgegeben. Das gestand er nun vorm Düsseldorfer Landgericht

von Martin Höke  30.06.2025

Düsseldorf

NRW: Zahl antisemitischer Straftaten gestiegen

Fast 700 Fälle wurden im vergangenen Jahr registriert - ein Zuwachs von 27 Prozent

 30.06.2025

Uni Duisburg

Online-Mahnmal gegen Schändung jüdischer Friedhöfe gestartet

Die Universität Duisburg-Essen hat ein Online-Projekt zum Schutz jüdischer Friedhöfe vorgestellt. Grundlage dafür ist eine interaktive Karte

von Raphael Schlimbach  30.06.2025

Atomprogramm

Iran signalisiert Bereitschaft zu Verhandlungen

Nach den US-Angriffen auf iranische Nuklearanlagen wurden die Atomgespräche zunächst unterbrochen. Nun mehren sich Signale Teherans, an den Verhandlungstisch zurückzukehren - unter Bedingungen

 30.06.2025