Demoskopie

Abstimmung gegen Antisemitismus?

Foto: picture alliance / Schoening

Erstmals seit 1990 findet eine Bundestagswahl mitten im Winter statt. Der Jahreszeit entsprechend regelrecht eingefroren wirkten auch die Umfragen, die die Meinungsforscher nunmehr im Wochentakt veröffentlichen. Der Sieg dürfte CDU und CSU am Sonntag nicht mehr zu nehmen sein; eine Regierungsbildung gegen die Union erscheint ausgeschlossen. Doch wie groß der Vorsprung ausfällt, ist noch unklar.

Auf dem zweiten Platz landen dürfte die Alternative für Deutschland (AfD) – mit einem Ergebnis, das wohl mehr als doppelt so gut ausfallen wird wie noch 2021. Für den Wahlforscher Stefan Merz vom Institut Infratest dimap ist klar, warum die Union derzeit vorn liegt: »Die drängendsten Probleme der Deutschen sind seit längerer Zeit die Wirtschaft und die Zuwanderung, letzteres vor allem in Verbindung mit innerer Sicherheit. Das sind klassische Unionsthemen.«

Eine breite Mehrheit der Deutschen könne sich nach wie vor nicht vorstellen, die AfD zu wählen, sagt ein Wahlforscher.

Andere Themen wie zum Beispiel der Kampf gegen den wachsenden Antisemitismus, der Gaza-Krieg oder der russische Angriff auf die Ukraine und seine Folgen für Deutschland seien hingegen für deutlich weniger Menschen von wahlentscheidender Bedeutung – auch wenn sie durchaus eine Rolle dabei spielen könnten, dass bestimmte Parteien nicht gewählt würden, so Merz. Eine breite Mehrheit der Deutschen könne sich nach wie vor nicht vorstellen, die AfD zu wählen. Vor allem Anhänger von Grünen und Linken seien sehr beunruhigt über den Rechtsextremismus in Deutschland, sagte Wahlforscher Merz der »Jüdischen Allgemeinen«.

Die Aufregung über den kürzlich im Bundestag gemeinsam von CDU/CSU, FDP und AfD verabschiedeten Entschließungsantrag zur Migrationspolitik habe dagegen kaum etwas verändert. »In unseren Befragungen fand nahezu jeder Zweite das Vorgehen der Union akzeptabel, im Unterschied zu einer möglichen Koalition mit der AfD«, so Merz.

Sein Namensvetter, CDU-Chef und Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz, stoße inhaltlich mit seinen Vorschlägen auf viel Zustimmung, weiß der Wahlforscher. »Einzig der sichtbare Anstieg der Linken in den Umfragen dürfte mit einer Mobilisierung gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD zu tun haben.« Eine Regierungsbeteiligung der AfD auf Bundes- oder Landeseben lehne eine große Mehrheit der Deutschen hingegen ab.

Und auch wenn nicht alle die gleichen Schlussfolgerungen daraus zögen, spielten bei vielen im Hinterkopf die Verantwortung für die deutsche Geschichte und der sichtbarer werdende Antisemitismus in der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Weniger wichtiger ist hingegen der Nahostkonflikt. Bei Wählerbefragungen nenne nur etwa jeder Siebte die internationalen Konflikte und die außenpolitischen Herausforderungen als wichtiges Thema, so Stefan Merz. »Hier spielt der Nahostkonflikt sicherlich mit rein, aber sehr viele denken auch an die Ukraine, an Russland und an die Herausforderungen, die der Regierungswechsel in Washington für Deutschland und Europa bedeutet.«

Erstmals wird der Bundestag nach dem neuen, von der Ampelkoalition gegen den Widerstand der Union durchgesetzten Wahlrecht gewählt. Hauptziel der Reform war die Begrenzung der Zahl der Abgeordneten. Insgesamt 630 Mitglieder wird das Parlament in den nächsten vier Jahren umfassen, gut 100 weniger als bisher. Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es künftig nicht mehr.

»Die drängendsten Probleme sind die Wirtschaft und die Zuwanderung.«

Stefan Merz, Meinungsforscher

Eine Folge der Reform ist, dass, wer einen der 299 Wahlkreise gewinnt, nicht mehr automatisch in den Bundestag einzieht. Ausschlaggebend ist nun – zumindest bei parteigebundenen Wahlkreisbewerbern – einzig und allein das Zweitstimmenergebnis. Es entscheidet über die Gesamtzahl der Mandate, die einer Partei pro Bundesland zustehen. Wer deutschlandweit weniger als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigt, zieht nicht ins Parlament ein – mit einer Ausnahme: Die Sperrklausel gilt nicht für Parteien, deren Bewerber in mindestens drei Wahlkreisen die Mehrheit der Erststimmen erringen, und auch nicht für Listen, die nationale Minderheiten repräsentieren.

Fast ein Viertel der Wahlberechtigten ist mittlerweile über 70 Jahre alt.

Am 23. Februar kandidieren insgesamt 4506 Bewerber für die 630 Sitze im Bundestag. Bei der letzten Wahl waren es mit 6211 noch deutlich mehr. Auch die Zahl der Wahlberechtigten ist rückläufig: Dieses Mal sind nur 59 Millionen Deutsche stimmberechtigt, zwei Millionen weniger als noch 2021 – eine Auswirkung der sinkenden Geburtenrate unter den Einwohnern mit deutscher Staatsangehörigkeit. Fast ein Viertel der Wahlberechtigten ist mittlerweile über 70 Jahre alt, Tendenz steigend.

Allerdings könnten bei dieser Wahl mehr Menschen teilnehmen als noch vor gut drei Jahren. Wahlforscher verzeichnen ein reges Interesse in der Bevölkerung. Und das, obwohl sich in den Umfragen seit Monaten nur sehr wenig tut. Auch Stefan Merz prognostiziert eine vergleichsweise hohe Mobilisierung. Die geringe Bewegung bei den Wahlabsichten hat für ihn unter anderem damit zu tun, dass es bei den entscheidenden Fragen nur wenig neue Informationen gibt, welche die Menschen noch umstimmen könnten.

»Das Urteil über die Ampelregierung, sowohl über die Parteien als auch über ihr Führungspersonal, scheinen die Bürger schon vor Monaten abschließend gefällt zu haben. Sie wünschen sich eindeutig eine andere Koalition und einen anderen Bundeskanzler«, glaubt Merz. Keine guten Nachrichten für den Amtsinhaber Olaf Scholz, dessen SPD aktuell in Umfragen abgeschlagen auf dem dritten Platz liegt.

Wem die jüdischen Wähler in Deutschland mehrheitlich ihre Stimme geben, konnte der Infratest-dimap-Wahlforscher nicht sagen. »Wir fragen die Religionszugehörigkeit in der Regel nicht ab.«

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