Interview

»1914 ist immer noch aktuell«

Christian Wiese Foto: Christoph Boeckheler

Herr Wiese, Sie haben eine Ringvorlesung zur jüdischen »Generation 1914« in Europa konzipiert. Was versteht man darunter?
Ganz allgemein gesprochen ist das die Generation junger Juden, die unmittelbar vom Ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogen wurde: entweder, weil sie selbst in den Krieg ziehen mussten oder dadurch, dass sie in ihrer Existenz und ihrem Denken davon geprägt wurden.

Gab es eine spezifisch jüdische Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs?
Natürlich war der Krieg für alle, die ihn erleben mussten, ein wirklich existenzieller Einschnitt. Und doch bedeutete er für europäische Juden eine besondere Herausforderung, schon weil jüdische Soldaten in feindlichen Armeen kämpften. Der während des Krieges aufbrandende Antisemitismus und die antijüdische Massengewalt in Osteuropa waren für viele erschütternde Kriegsfolgen. Aber auch der Zionismus als breite Bewegung ist nicht ohne die Balfour-Deklaration von 1917 zu verstehen, die Juden das Recht auf eine eigene nationale Heimstätte in Palästina zugestand.

Hat der Erste Weltkrieg ein multireligiöses Nebeneinander zerstört? Oder beschönigt man so die Zeit vor 1914?
Wenn man sich Deutschland anschaut oder auch Frankreich und England, wo es eine stark integrierte jüdische Gemeinschaft gab, sieht man, dass der Krieg für Juden zunächst ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl zur jeweiligen Nation bewirkt hat. Viele Juden, gerade in Deutschland, meldeten sich freiwillig, um Ressentiments zu begegnen und ihre Zugehörigkeit zum Vaterland zu beweisen. Gleichzeitig machten die deutschen Juden schon 1916 die Erfahrung der »Judenzählung«, einer mehr als diffamierenden und ausgrenzenden Registrierung jüdischer Soldaten.

War da der Antisemitismus der Weimarer Republik schon angelegt?
Der Antisemitismus nach 1918 ist ohne den Weltkrieg nicht zu erklären: die Rede vom »Diktat von Versailles« oder die Mär vom »jüdischen Bolschewismus«. Und mit der Ermordung des jüdischen Außenministers Walther Rathenau 1922 wurde schon früh ein Zeichen gesetzt.

Wie aktuell ist Ihre Ringvorlesung?
Wenn wir an den Ersten Weltkrieg erinnern, dann kann man gar nicht von Gewalt und Kriegsgefahren der Gegenwart absehen. Vielleicht sind da gerade die jüdischen Reaktionen vor 100 Jahren, der rasche Übergang von Enthusiasmus und Patriotismus zu tiefer Ernüchterung, von Interesse.

Gibt es diese Ernüchterung noch?
Derzeit fällt auf, dass unbefangener als früher wieder von militärischen Optionen und Kaltem Krieg in Europa die Rede ist. Erschreckend ist für mich, wenn ich die aktuellen Diskussionen verfolge, dass die geschichtlichen Lehren über das Ausmaß von Gewalt und Leid, die ein Krieg mit sich bringt, in den Hintergrund zu treten scheinen.

Mit dem Frankfurter Professor für jüdische Religionsphilosophie sprach Martin Krauß.

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

Deutschland

»Hitler ist niedergekämpft worden. Unsere Städte mussten in Schutt und Asche gelegt werden, leider«

Militanter Linker, Turnschuhminister, Vizekanzler und Außenminister: Das sind die Stationen im Leben des Grünenpolitikers Joschka Fischer. Warum er heute vom CDU-Kanzler Konrad Adenauer ein anderes Bild als früher hat

von Barbara Just  21.11.2025

Berlin

Bundesinnenministerium wechselt Islamismusberater aus

Beraterkreis statt Task Force: Die schwarz-rote Bundesregierung setzt einen anderen Akzent gegen islamistischen Extremismus als die Ampel. Ein neues Expertengremium, zu dem auch Ahmad Mansour gehören wird, soll zunächst einen Aktionsplan erarbeiten

von Alexander Riedel  21.11.2025

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  21.11.2025

Glosse

Auf, auf zum bewaffneten Kampf!

Eine deutsche Komikerin wechselte am Wochenende wieder einmal das Genre. Enissa Amani versuchte allen Ernstes, rund 150 Berlinern zu erklären, dass Nelson Mandela das Vorgehen der Hamas gegen Israel gutgeheißen hätte

von Michael Thaidigsmann  21.11.2025 Aktualisiert

Vor 80 Jahren

Zentralrat der Juden: Nürnberger Prozesse waren Wendepunkt

Es waren hochrangige NS-Kriegsverbrecher, die vor 80 Jahren in Nürnberg vor Gericht standen. Was diese Prozesse aus Sicht des Zentralrats der Juden bedeuten - auch heute

von Leticia Witte  21.11.2025

Paris

EJC warnt vor wachsender Radikalisierung junger Menschen im Netz

»Hass ist viral gegangen«, sagt Moshe Kantor, der Präsident der Organisation

 21.11.2025

Berlin

Israelisches Schutzsystem soll neue Leopard-2-Flotte sicherer machen

Das »Hard-Kill-Abwehrsystem« Trophy erkennt anfliegende Raketen und macht diese unschädlich

 21.11.2025

Internationales

Europäische Rabbiner nominieren Donald Trump für Friedensnobelpreis

Der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, hat sich Forderungen angeschlossen, den US-Präsidenten für seine Bemühungen im Nahen Osten mit dem Preis zu ehren

 21.11.2025