Lilly Wolter

Wir brauchen Zweitzeugen

Lilly Wolter Foto: Gregor Matthias Zielke

Lilly Wolter

Wir brauchen Zweitzeugen

Nach der Generation der Zeitzeugen braucht es eine neue Generation, die die Geschichten von Überlebenden vor dem Vergessen rettet

von Lilly Wolter  14.07.2022 22:14 Uhr

Vergangene Woche hat die Schoa-Überlebende Margot Friedländer nach einer rührenden Laudatio des Bundespräsidenten den Walther-Rathenau-Preis erhalten. Als Dank für die beispiellose Erinnerungsarbeit, die sie seit ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahr 2010 unermüdlich leistet.

Es war eine bewegende Veranstaltung, so wie es immer bewegend ist mit Margot Friedländer, mit ihrer unbegreiflichen Stärke und vor allem ihrem entzückenden Witz. Doch die festliche Atmosphäre wurde gleichzeitig von einer wachsenden Besorgnis begleitet.

erinnerungen Sie war zu spüren, als Margot Friedländer, vorsichtig und fest gestützt an beiden Armen, die Bühne betrat. Als sie mit ihrer ikonischen, aber zunehmend brüchigen Stimme ihre Dankesrede sprach. Friedländer ist inzwischen 100 Jahre alt. Lange wird sie ihre Geschichte nicht mehr persönlich erzählen können. Die Frage danach, wie wir ihre Erinnerungen und die anderer Überlebender zukünftig wachhalten – sie wird immer lauter. Sie war auch an diesem Tag laut.

Zuhören allein wird mit einer zunehmenden Bedrohung durch rechtsextreme Ideologien nicht mehr reichen, um unsere Demokratie zu erhalten.

Margot Friedländer begegnen zu dürfen, sei ein Geschenk an uns alle, sagte Bundespräsident Steinmeier. Das stimmt. Doch was ist, wenn die nachfolgenden Generationen Überlebende nicht mehr persönlich kennenlernen? Wie müssen ihre Geschichten konserviert werden, um den wohl bekanntesten Appell Friedländers »Es darf nie wieder geschehen!« für alle Zeiten zu garantieren?

pflicht Nach der Generation der Zeitzeugen braucht es eine neue Generation, die die Geschichten von Überlebenden vor dem Vergessen rettet. Nämlich die der Zweitzeugen. So sieht es auch der gleichnamige Verein, in dem Friedländer noch aktiv ist. Überlebenden zuzuhören, ist unsere Pflicht.

Zuhören allein wird mit einer zunehmenden Bedrohung durch rechtsextreme Ideologien nicht mehr reichen, um unsere Demokratie zu erhalten. Wir müssen Zweitzeugen werden und Überlebenden die Erinnerungsarbeit abnehmen, die sie viel zu lange allein machen mussten. Wir müssen Stiftungen, Initiativen und jene unterstützen, die diese Arbeit tagtäglich leisten. Wir müssen schlichtweg noch mehr tun.

wolter@juedische-allgemeine.de

Kommentar

Müssen immer erst Juden sterben?

Der Anschlag von Sydney sollte auch für Deutschland ein Weckruf sein. Wer weiter zulässt, dass auf Straßen und Plätzen zur globalen Intifada aufgerufen wird, sollte sich nicht wundern, wenn der Terror auch zu uns kommt

von Michael Thaidigsmann  14.12.2025

Meinung

Blut statt Licht

Das Abwarten, Abwiegeln, das Aber, mit dem die westlichen Gesellschaften auf den rasenden Antisemitismus reagieren, machen das nächste Massaker nur zu einer Frage der Zeit. Nun war es also wieder so weit

von Sophie Albers Ben Chamo  14.12.2025 Aktualisiert

Meinung

Die Schweiz als Ausweichort: Ein Lehrstück über den Umgang mit kontroversen Positionen

Linke Intellektuelle verbreiteten auf einer Tagung anti-israelische Verschwörungstheorien. Die Veranstaltung zeigt, warum wir den offenen, präzisen Diskurs gegen jene verteidigen müssen, die Wissenschaftlichkeit als Tarnkappe missbrauchen

von Zsolt Balkanyi-Guery  12.12.2025

Meinung

Nemo unverbesserlich

Nemo gibt mit Rückgabe der ESC-Siegertrophäe auch Haltung ab. Statt Rückgrat zu zeigen, schwimmt das Schweizer Gesangswunder von 2024 im postkolonialen Strom mit

von Nicole Dreyfus  12.12.2025

Andrea Kiewel

Ein Weltwunder namens Regen

Jedes Jahr im Dezember versetzt der Regen die Menschen in Israel in Panik - dabei ist er so vorhersehbar wie Chanukka

von Andrea Kiewel  11.12.2025 Aktualisiert

Meinung

Eurovision: Mobbing statt Musik

Eigentlich versteht jeder, dass Musiker nicht mit ihren Regierungen identisch sind. Wenn es um den jüdischen Staat geht, scheint diese Logik jedoch nicht zu gelten

von Sabine Brandes  07.12.2025

Zwischenruf

Die außerirdische Logik der Eurovision

Was würden wohl Aliens über die absurden Vorgänge rund um die Teilnahme des jüdischen Staates an dem Musikwettbewerb denken?

von Imanuel Marcus  07.12.2025

Meinung

Zurück ins Mittelalter?

Die israelische Regierung will die Todesstrafe wieder einführen. Das ist geschichtsvergessen und verblendet

von Sophie Albers Ben Chamo  04.12.2025

Meinung

Wagenknechts Schiffbruch

Nur etwa zwei Jahre nach seiner Gründung steht das BSW vorm endgültigen Scheitern – eine gute Nachricht! Dennoch bleibt ein übler Nachgeschmack

von Ralf Balke  04.12.2025