Manche Aussagen reifen erst mit den Jahren zu zeitlosen Klassikern. So hatte der Publizist Wolfgang Pohrt bereits 1982 in einen Beitrag mit dem Titel »Der Täter als Bewährungshelfer« geschrieben, dass der mustergültig geplante und exekutierte Massenmord an den Juden viele Deutsche offensichtlich innerlich dazu verpflichte, »Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde«, sprich, Deutsche müssen stets achtsam sein, dass Israel nicht selbst zum »Täter« werde.
Einer derjenigen, den diese Sorge um eine israelische Täterschaft seit Langem um den Schlaf zu bringen scheint, ist Stephan Detjen, Chefkorrespondent des Deutschlandradios im Hauptstadtstudio des Senders. In einem Kommentar zur deutschen Israelpolitik im Deutschlandfunk erklärte Detjen dieser Tage im Hinblick auf das israelische Vorgehen im Gazastreifen, »dass Israel auch zu einem Staat der Täter in seiner Regierung und Armee geworden ist.«
Das »auch« im Satz ist hier das Problematische an dieser Äußerung, markiert es doch die Gemeinsamkeiten zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem jüdischen Staat. Da geht es nicht mehr um eine vulgäre Täter-Opfer-Umkehr, wie man sie hierzulande in Beiträgen zum Krieg im Gazastreifen immer wieder zu lesen bekommt, also, dass Israel der Aggressor sei und die Palästinenser die Opfer, woraufhin oftmals der Vorwurf des Genozids folgt. Nein, in diesem Satz schwingt die Gleichung Israel = Drittes Reich ganz unverblümt mit. Stephan Detjen ist ein erfahrener Journalist, so ein Satz ist keine Fahrlässigkeit oder einer gewissen Naivität geschuldet, das ist Absicht.
Für Detjen sind die Tränen des Bundeskanzlers angesichts der Grausamkeiten der Schoa offenbar ein Skandal.
Selbstverständlich muss die deutsche Israelpolitik darauf reagieren, so die Forderung von Stephan Detjen. Aber das kann sie ja nicht, behauptet er. »Das Weinen von Kanzler Merz angesichts der Schoah wirft ein Schlaglicht auf die Selbstverblendung Deutschlands. Deutsche Politiker erkennen die Realität des Vorgehens Israels in Gaza nicht an.« Überhaupt würden die Tränen den klaren Blick auf die Wahrheiten vernebeln, die wohl nur ein Stephan Detjen zu erkennen in der Lage ist.
Der Bundeskanzler aber vergieße angesichts der Grausamkeiten der Schoa in der Münchner Synagoge Reichenbachstraße Tränen, und das ausgerechnet am »Vorabend des Tages, an dem die israelische Armee ihre neue Offensive gegen Gaza City begann und eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung feststellte«. Das ist für Stephan Detjen offensichtlich ein Skandal.
Nun sind die Emotionen des Bundeskanzlers eine Sache, über die man eine Menge schreiben könnte. Sie aber derart zu instrumentalisieren, um einen weiteren Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Israel zu konstruieren, lässt sich durchaus als moralische Verwahrlosung bewerten. Oder aber man ist nicht nur Journalist, sondern hat einen Zweitjob, und zwar deutscher Bewährungshelfer, ganz im Sinne von Wolfgang Pohrt.
Der Autor ist Historiker und freier Journalist und lebt in Berlin.