Shahrzad Eden Osterer

Was ist der Preis für eure Aufmerksamkeit?

Shahrzad Eden Osterer Foto: Johannes Graf

Shahrzad Eden Osterer

Was ist der Preis für eure Aufmerksamkeit?

Nach den Protesten gegen das Regime im Iran tat die deutsche Politik so, als würde sie zuhören. Aber es hat sich nichts geändert

von Shahrzad Eden Osterer  24.01.2024 15:16 Uhr

Ich verließ den Iran im Alter von 20 Jahren, weil ich es dort nicht mehr ertragen konnte. Ich wuchs auf mit den Geschichten der Freunde meiner Eltern, die in den ersten Jahren nach der Machtübernahme von Khomeini und seinen Anhängern hingerichtet wurden. Ihre Bilder hingen an den Wänden und in Fotoalben. Sie prägten meine Kindheit, ohne dass ich genau wusste, was »Edam«, die Hinrichtung, bedeutete. Ich wusste nur, es ist etwas sehr Schlimmes, und ich wusste, sie sind nicht mehr da.

Die Wut auf dieses Regime spürte ich in meiner Umgebung, aber ich wusste bereits, dass ich draußen meinen Mund halten musste, weil diese Männer gefährlich sind und keine anderen Meinungen dulden. Später, in der Schule und auf der Straße, erlebte ich ihre Gewalt körperlich und seelisch. Mit 16 wurde ich verhaftet, als Hure beschimpft und erniedrigt, und mit vielen anderen Frauen in eine kleine Zelle gepfercht, nur weil ich mit meinem Freund auf der Straße war.

Mit 18, als ich als Reporterin im Familiengericht begann, begegnete ich ihrem frauenfeindlichen Geist täglich. Ich werde jene Frauen nie vergessen, die jahrelang die Treppen des Familiengerichts hoch- und herunterliefen, in der Hoffnung, sich scheiden zu lassen. Sie warteten auf den dreckigen Fluren und wussten, dass sie wieder von den Richtern zu ihren gewalttätigen, drogenabhängigen Männern zurückgeschickt werden. Nie werde ich ihre Augen vergessen, während sie mir von ihrem Leid erzählten. Ihre angeschwollenen Gesichter, die raue Haut an ihren Händen, ihre Tränen – meine Tränen, als ich die Geschichten schrieb.

Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich wollte weg. Ich kam nach Deutschland. 2010, kurz nachdem Millionen im Iran auf die Straße gegangen waren, wurde ich Journalistin. Ich dachte, ich könnte mit meiner Arbeit dazu beitragen, dass demokratische Regierungen, vor allem in meiner Wahlheimat Deutschland, verstehen, dass die Menschen im Iran die islamische Republik ablehnen. Nicht nur sie leiden unter ihr, sondern alle Menschen in der Region, und ich war damit nicht allein.

Nach der Ermordung von Mahsa Jina Amini wurden wir plötzlich noch viele mehr. Nicht nur Journalisten, Ingenieure, Lehrkräfte, Ärzte, Hausfrauen, Künstler, Handwerker, Anwälte und Unternehmer – sie alle wurden Aktivisten für die Frau, das Leben und die Freiheit. Und die Politik? Sie hat es gesehen, sie hat uns eingeladen, hat so getan, als ob sie uns zuhört. Sie hat sich mit uns ablichten lassen und hat schöne Worte in Pressemitteilungen und auf sozialen Medien geschrieben. Sie hat uns versprochen, dass sie sich für die Menschen im Iran einsetzt, dass sie ihre Politik gegenüber den Mördern unserer Kinder im Iran ändert.

Doch was kam? Halbherzige Sanktionspakete, die wie ein schlechter Witz erschienen. Ausreden, warum man das Regime nicht auf die Terrorliste der EU setzen kann, und eine Steigerung der Exporte. Das Regime mordet weiter, mit aller Brutalität. Durch seinen Proxy, die Hamas, hat das Regime ein Massaker an Menschen in Israel angerichtet. Im Schatten des Krieges zündelt es in anderen Teilen der Region und macht das Leben der Menschen zur Hölle. Im eigenen Land hängt es täglich weiter Menschen auf. Junge Menschen, die ihre Stimme gegen das Unrecht erhoben, und es tötet damit unsere Zukunft.

Liebe Freunde des Appeasements in der demokratischen Welt, ich habe aufgehört, an eure Moral zu appellieren. Sagt uns: Was ist eigentlich der Preis eurer Aufmerksamkeit und eures Handelns? Was müssen wir bezahlen? Wie viele Fotos mit euch? Wie viele Vorträge und Veranstaltungen, damit ihr euch gut fühlt? Wie viel sollen die Menschen dort eigentlich bezahlen? Wie viel Folter noch? Wie viele Vergewaltigungen? Wie viele Leben? Wie viele zerrissene Familien? Wie viele schlaflose Mütter? Wie viele traumatisierte Kinder?

Mit jedem Tag, den ich hier in Freiheit erlebe, trage ich die Erinnerungen an jene Frauen, Männer und Kinder, die im Iran unterdrückt und getötet wurden. Ihre Geschichten sind wie ein ständiger Ruf nach Gerechtigkeit in meinen Gedanken. Dieser Schrei nach Freiheit und Menschlichkeit ist lauter als jede Unterdrückung, jedes Schweigen. Und ihr, die eure Ohren verschließt, die ihr euch abwendet und wegseht, ihr, die relativiert und Terror als Widerstand verkauft: Der Preis der Freiheit ist hoch, aber der Preis der Gleichgültigkeit ist unermesslich höher.

Die Autorin ist Journalistin für den Bayerischen Rundfunk.

Meinung

Der erfundene »Völkermord«

Wer für einen Genozid verantwortlich ist, versorgt dessen angebliche Opfer nicht, warnt sie nicht vor Angriffen und richtet weder Fluchtrouten noch humanitäre Zonen ein

von Imanuel Marcus  18.09.2025

Meinung

Vereinte Nationen: Alter Wein in neuen Schläuchen

Kommende Woche soll in New York eine Resolution zum Nahostkonflikt verabschiedet werden. Sie ist hochproblematisch. Deutschland sollte dagegen stimmen

von Jacques Abramowicz  18.09.2025

Kommentar

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  18.09.2025 Aktualisiert

Meinung

Für das Leben entscheiden

Die Fortführung der Kampfhandlungen in Gaza gefährdet das Leben der Geiseln und den moralischen Fortbestand Israels. Es ist Zeit, diesen Krieg zu beenden

von Sabine Brandes  16.09.2025

Kommentar

Das Geraune von der jüdischen Lobby

Der Zürcher »Tages-Anzeiger« befasst sich kritisch mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, der die Absage einer Veranstaltung mit Francesca Albanese an der Uni Bern gefordert hatte. Dabei war diese Intervention richtig

von Michael Thaidigsmann  15.09.2025

Meinung

Lasst uns nicht allein!

Nach dem Canceln von Lahav Shani durch das Flandern-Festival in Gent befürchtet Maria Ossowski, dass Juden Europa jetzt verlassen wollen

von Maria Ossowski  11.09.2025

Meinung

Gent: Boykottiert die Boykotteure!

Dass die Münchner Philharmoniker in Gent nicht auftreten dürfen, weil sie mit Lahav Shani einen israelischen Dirigenten haben, ist eine Schande - und erfordert eine deutliche Antwort deutscher Kulturschaffender

von Michael Thaidigsmann  10.09.2025

Meinung

Wenn Wutausbrüche Diplomatie ersetzen

So verständlich der Frust ist, tut sich Israels Regierung mit ihrer aggressiven Kritik an westlichen Regierungen und ihren Einreiseverboten für europäische Politiker keinen Gefallen

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025

Meinung

Bitte mehr Sorgfalt, liebe Kollegen!

Weltweit haben Medien die Geschichte verbreitet: In Gaza sei ein hilfesuchendes Kind von Israelis erschossen worden. Es stimmt nur nicht, wie sich nun herausstellt. Von professionellen Journalisten darf man eigentlich mehr erwarten

von Susanne Stephan  08.09.2025