Benjamin Steinitz

Rückschritt für das »Berliner Modell«

RIAS-Vorsitzender Benjamin Steinitz Foto: imago images/Jürgen Heinrich

Am 5. Juni 2021 wird ein Mann mit Davidstern-Kette in Berlin-Mitte von einem Passanten gefragt, weswegen er eine »Illuminatenkette« trage und ob er Jude sei. Als er Letzteres mit »Ja« beantwortet, wird der Täter aggressiv: »Warum unterstützt du Kindermörder?« Mehrere Begleiter des Täters lachen und rufen »Free Palestine«. Der Betroffene ignoriert die Sprüche und versucht, sich der bedrohlich wirkenden Situation zu entziehen. Schon mit etwas Abstand hört er noch die Drohung: »Du bist der Nächste.«

Für Berliner Juden und Jüdinnen ist es schon zur Gewohnheit geworden: Immer, wenn palästinensische Terrorgruppen einen neuen Krieg mit Israel anzetteln – in den vergangenen Jahren erfolgte das in der Regel im Umfeld des Nakba-Tags beziehungsweise zum Jahrestag der israelischen Staatsgründung –, wird das Leben noch etwas anstrengender.

warnsignale Wenn Juden dann auch noch auf der einen Seite für die Covid-19-Pandemie verantwortlich gemacht werden und gleichzeitig erleben müssen, wie sich Impfgegnerinnen und -gegner den »Judenstern« anheften, dann müssen bei Staat und Zivilgesellschaft die Warnsignale angehen. Leider erlebte das viel gepriesene, ja sogar bei der Europäischen Kommission in Brüssel wahrgenommene »Berliner Modell« der Antisemitismus-Bekämpfung einen derben Rückschlag.

Erstmals seit 2016 ist ein Vergleich zwischen den antisemitischen Straftaten, die in der Polizeistatistik erhoben werden, und der zivilgesellschaftlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle für das vergangene Jahr nicht mehr möglich gewesen. Die Berliner Polizei hat die Daten aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zur Verfügung gestellt.

Fakt ist, sowohl die Polizei hat mit über 400 antisemitischen Straftaten und RIAS Berlin mit mehr als 1000 Vorfällen jeweils Höchstwerte registriert.

Fakt ist, sowohl die Polizei hat mit über 400 antisemitischen Straftaten und RIAS Berlin mit mehr als 1000 Vorfällen jeweils Höchstwerte registriert. Wie sich die Zahlen zueinander verhalten, bleibt unklar.

Während also der Antisemitismus in der Hauptstadt real zunimmt, nimmt der fachliche Austausch zu den Entwicklungen der Fallzahlen zwischen Zivilgesellschaft und Polizei ab. Eine bedauerliche Entwicklung für das »Berliner Modell«.

Der Autor ist Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin.

Einspruch

Solidarität mit Somaliland

Sabine Brandes findet Israels Anerkennung der Demokratie am Horn von Afrika nicht nur verblüffend, sondern erfrischend

von Sabine Brandes  30.12.2025

Meinung

Für mich ist es Nowy God – und warum ich ihn feiere

Das Neujahrsfest hat mit dem Judentum eigentlich nichts zu tun. Trotzdem habe ich warme Erinnerungen an diesen säkularen Feiertag

von Jan Feldmann  30.12.2025

Kommentar

Wer Glaubenssymbole angreift, will Gläubige angreifen

Egal ob abgerissene Mesusot, beschmierte Moscheen oder verwüstete Kirchen: Politik und Religion werden zurzeit wieder zu einem hochexplosiven Gemisch. Dabei sollte man beides streng trennen

 29.12.2025

Meinung

Die Columbia und der Antisemitismus

Ein neuer Bericht offenbart: An der US-Eliteuniversität sind die Nahoststudien ideologisch einseitig und jüdische Studenten nicht sicher. Es ist ein Befund, der ratlos macht

von Sarah Thalia Pines  22.12.2025

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  21.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  21.12.2025

Nahost

Warum Deutschland seine Botschaft nach Jerusalem verlegen sollte

Ein Kommentar von JA-Redakteur Imanuel Marcus

von Imanuel Marcus  21.12.2025

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025