Meinung

Ohne sie sind wir nicht vollständig

Benjamin Graumann

Nach mehr als 15 Monaten in der Gewalt der Hamas sind 13 israelische und fünf thailändische Geiseln seit Kurzem endlich wieder in Freiheit. Die Übergabe der Verschleppten an das Internationale Rote Kreuz und die tränenreichen Wiedervereinigungen mit den Familien wurden live im israelischen Fernsehen übertragen.

Angesichts dieser Bilder und der endlos scheinenden Monate des Bangens um ihr Schicksal sind wir mit einer Vielzahl von Emotionen und Gedanken konfrontiert. Es fällt nicht leicht, sie alle zu verstehen, zumal es so viele unterschiedliche Gefühle sind, die in unseren Köpfen und Herzen herumwirbeln – und sie stecken voller Widersprüche.

Freude und Erleichterung

Über allem stehen selbstverständlich die Freude und Erleichterung darüber, dass die Geiseln endlich wieder frei sind. Ich erinnere mich an unzählige Mahnwachen und zahlreiche Plakataktionen, bei denen ich gemeinsam mit vielen anderen die Fotos dieser Menschen in Händen hielt und wir uns alle so sehr wünschten, dass sie endlich wieder nach Hause kommen mögen. Wer nicht geweint hat, als die nun Freigelassenen ihre Eltern, Geschwister, Partner, Kinder, ihre Tanten, Onkel, Verwandten und Freunde wieder umarmen konnten, der hat kein Herz. Es fühlte sich so an, als seien wir alle Teil dieser Umarmungen.

Die Freilassung der Geiseln hat nachdrücklich gezeigt, dass wir die Hoffnung niemals aufgeben dürfen. Das ist Teil unserer jüdischen DNA, Teil unserer Kultur und Geschichte und unseres jüdischen Selbstverständnisses. Selbst in den dunkelsten Zeiten gibt es Hoffnung auf Licht. Die Freigelassenen haben dieses Licht entzündet, und wir wünschen uns, dass es hell leuchtet und niemals verglüht.

Tage der Enttäuschung

Diese Tage waren jedoch gleichzeitig auch Tage der Enttäuschung. Enttäuschung darüber, dass immer noch mehr als 80 Menschen in der Gewalt der Hamas sind, dass so viele Familien weiterhin bangen müssen und im Ungewissen zurückbleiben. Unter den noch in Gaza befindlichen Geiseln ist auch Shiri Bibas mit den beiden Kindern Ariel (5) und Kfir (2), die am 7. Oktober 2023 gemeinsam entführt wurden. Der Vater Yarden Bibas kam an diesem Wochenende endlich nach Hause. Das Bild der Mutter, die weinend ihre Söhne im Arm hält, ging um die Welt. Man weiß nichts über ihr Schicksal. Kfir hat mehr Zeit seines jungen Lebens in Geiselhaft verbracht als in Freiheit.

Diese Menschen lebten und liebten ihre Freiheit, sie wurden brutal aus ihrem Leben gerissen.

Enttäuschung besteht jedoch auch darüber, wer anlässlich der Freilassung der Geiseln geschwiegen hat. Keine Frauenrechtsorganisation, keine Friedensorganisation, keine Menschenrechtsorganisation, die das Martyrium der Befreiten – vor allem junge Frauen – in den Fängen der Terroristen verurteilt hat.

Dies ist ein Verrat an den Frauen und ein Verrat an der Menschlichkeit. Diese Menschen lebten und liebten ihre Freiheit, sie wurden brutal aus ihrem Leben gerissen. Niemandem, der die Freiheit liebt und sie verteidigen will, kann dies gleichgültig sein. Solch Empathielosigkeit tut weh, mehr noch: Sie ist unerträglich.

Wut angesichts der verstörenden und schockierenden Bilder

Wütend bin ich in zweifacher Hinsicht: Ich bin wütend darüber, wie die Geiseln bis zur letzten Sekunde terrorisiert, bedrängt und vorgeführt wurden. Die verstörenden und schockierenden Bilder der Übergabe unter der Führung von schwer bewaffneten Terroristen und im Beisein von Hunderten Zivilisten – darunter Frauen und Kinder -, die den Kidnappern und Mördern zujubelten, müssen doch jedem deutlich gemacht haben, dass die Gefahr noch immer nicht gebannt ist. Wer nach diesen Erfahrungen zweifelt, mit wem er sich solidarisch zeigen soll, der hat sein Gefühl für Anstand und Moral längst verloren.

Wütend bin ich auch über viele Berichte in der deutschen Presse. Um es klar zu sagen: Wenn Journalisten von einem »Geiselaustausch« oder einem »Gefangenenaustausch« sprechen oder schreiben, haben sie ihren Beruf verfehlt. Das ist nicht zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Auf der einen Seite: Menschen, die das Leben lieben und das Leben feiern. Und auf der anderen Seite: verurteilte Straftäter, Menschen die sich dazu entschieden haben, anderen ihre Freiheit, ihre Gesundheit und ihr Leben zu rauben. Größer könnten die Gegensätze nicht sein. Der sogenannte Deal ist im Übrigen auch kein Ergebnis von Verhandlungen, wie es oft heißt, sondern das Ergebnis einer Erpressung von Terroristen, die mit Menschenleben spielen. Auch das sollten deutsche Medien klar benennen.

Stolz, dass wir sie nie aufgegeben haben

Umso mehr erfüllt es mich mit Stolz, dass wir die Geiseln nie vergessen und nie aufgegeben haben. Wie sehr ein ganzes Land und ein ganzes Volk zusammensteht und zusammenhält, sieht man daran, mit wie vielen Aktionen weltweit an jedem einzelnen Tag seit dem 7. Oktober 2023 auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht wird.

Israel ist ohne die Geiseln nicht vollständig, und wir sind ohne sie nicht vollständig. Wir dürfen und werden nicht aufhören zu hoffen, wir dürfen und werden nicht aufhören zu beten – und wir dürfen und werden nicht ruhen, bis endlich wieder alle zu Hause sind.

Der Autor ist Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

Israel

Hamas-Anschlag gegen Minister Itamar Ben Gvir vereitelt

Die Terroristen wollten den Polizeiminister offenbar mithilfe von mit Sprengstoff beladenen Drohnen ermorden

 04.09.2025

Ferdinand von Schirach

»Sie werden von mir kein Wort gegen Israel hören«

Der Jurist und Schriftsteller war zu Gast bei Markus Lanz - es war eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Sendung

von Michael Thaidigsmann  04.09.2025

Treffen

Vatikan dringt auf Befreiung aller Geiseln und Zwei-Staaten-Lösung

Papst Leo XIV. hat den israelischen Präsidenten Isaac Herzog empfangen. Das Staatsoberhaupt lobte »die Inspiration und Führungsstärke des Papstes im Kampf gegen Hass und Gewalt«

von Almut Siefert  04.09.2025

Vatikan

Papst Leo XIV. empfängt Israels Präsidenten Herzog

Die Sommerpause des Papstes ist vorbei: Am Donnerstag empfing Leo XIV. Israels Präsidenten Herzog im Vatikan. Zuvor kam es zu Unklarheiten bezüglich der Vorgeschichte des Treffens

von Severina Bartonitschek  04.09.2025

Nahost

Geisel-Angehörige fordern Waffenruhe-Verhandlungen

Für die Geiseln läuft die Zeit ab. Angehörige fordern deshalb Marathonverhandlungen, bis ein Deal steht

 04.09.2025

Jerusalem

»Vernachlässigung der Heimatfront«: Staatsrevisor kritisiert Netanjahu

Staatsrevisor Matanyahu Englman sieht »Multi-System-Versäumnisse« im Zusammenhang mit dem 7. Oktober. Der Ministerpräsident weist die Vorwürfe zurück

 04.09.2025

Nahost

Hamas angeblich zu umfassendem Abkommen bereit

Ministerpräsident Netanjahu glaubt der Terrororganisation nicht und wirft ihr vor, mit der Behauptung nur Zeit gewinnen zu wollen

 04.09.2025

Nachrichten

Ikone, Geiseln, Gaza

Kurzmeldungen aus Israel

von Sabine Brandes  04.09.2025

Jerusalem

Studie: Genozidvorwürfe gegen Israel nachweislich unhaltbar

Das Begin-Sadat-Center für Strategische Studien (BESA) an der Bar-Ilan-Universität hat die international erhobenen Völkermordvorwürfe untersucht

 04.09.2025