Meinung

Links und jüdisch sein - das ist nach dem 7. Oktober eine prekäre Existenz geworden

Die 1980er Jahre, in denen ich erwachsen wurde, waren eine Zeit des Aufbruchs. Wir demonstrierten für Frauenrechte, gleiche Rechte für alle, Gewerkschaftsanliegen, gegen Fremdenhass. Zu meinem Freundeskreis gehören seit meiner Kindheit queere Menschen, jüdische und nicht-jüdische Menschen mit unterschiedlichsten Biografien oder auch Kurdinnen.

Meine Familie ist u.a. über Skandinavien, Ungarn, Marokko, Israel, die USA verstreut. Offenheit und Diversität sind für mich gelebte Selbstverständlichkeit, brauchen keinen theoretischen Überbau.

Doch seit einigen Jahren, verstärkt durch die Pandemie, die viele in die Vereinzelung und ins Extreme getrieben hat, haben sich neue Fronten gebildet, durch alle Parteien hindurch. Als ich mich mit den Iraner:innen und der Bewegung Frau-Leben-Freiheit solidarisierte, wurde ich von einer linken jüdischen Freundin beschimpft, auf Facebook schrieb sie mir öffentlich, ich sei »antiwoke« und würde wohl gerne von der SVP (die Schweizerische Volkspartei ist eine europaskeptische, nationalkonservative und wirtschaftsliberale politische Partei) beklatscht.

Die Diskussion wird unterdrückt. Was leider keine Probleme benennt, noch welche löst.

Das ist ein Schema heute in linken Diskursen: Menschen, die etwas anders sehen – ich sage: letztlich kritischer oder klarer –, werden als »rechts« gebrandmarkt. Die Diskussion wird unterdrückt. Was leider keine Probleme benennt, noch welche löst. Das kann man u.a. auch bei den absurden Boykottaufrufen gegen die Kurzfilmtage Oberhausen beobachten.

Begeistert berichtete mir ein Bekannter von der großen Demonstration gegen rechts in Berlin. Das sei ein gutes Zeichen im Kampf gegen den Antisemitismus. Allerdings sind da die Zahlen der tätlichen Angriffe gegen Juden in Europa leider bereits eindeutig: Die größte unmittelbare Gefahr für Juden sind zurzeit nicht Rechtsextreme, sondern der muslimische Extremismus.

Ob dieser wiederum mit dem Erstarken der AfD auch irgendwie zusammenhängen könnte, ist ein Gedanke, den Linke weit von sich weisen. Gleichzeitig verpassen sie es, sich um die Probleme der Menschen zu kümmern, die u.a. vor Geldsorgen kaum mehr aus noch ein wissen. Sie sind stattdessen mit Israel beschäftigt.

Der Kampf der Frauen, die ihr Leben riskieren, indem sie für ihre Grundrechte einstehen, ist offenbar nicht ihr Kampf

Komplexität wird ausgeblendet, auch bei uns in der Linken; das macht es möglich, dass sich brennende aktuelle Probleme häufen und wichtige Solidaritäten bröckeln. Wie meine oben zitierte, nun ehemalige Freundin argumentieren viele meiner linken Bekannten, und so entstehen paradoxe Situationen wie die, dass mein Mann und ich fast die einzigen Schweizer Teilnehmenden einer Demonstration gegen die Todesurteile des Mullahregimes waren. Iraner:innen kamen zu uns und bedankten sich für unser Erscheinen.

Die Schweizer Linke glänzte durch Abwesenheit; der Kampf der Frauen, die ihr Leben riskieren, indem sie für ihre Grundrechte einstehen, ist offenbar nicht ihr Kampf.

Umso mehr aber ist es heute der Kampf gegen Israel. Schon kurz nach dem 7. Oktober riefen z.B. linke Schweizer Filmemacher Israel zu einem einseitigen Waffenstillstand auf – ohne Erwähnung der kausalen Zusammenhänge. Angeführt von Samir, ebenfalls ein jahrelang Bekannter, der 2002 den Film »Forget Baghdad« über jüdische Autor:innen, die aus seinem Geburtsland Irak nach Israel fliehen mussten, veröffentlicht hat.

Die Kulturkommission der größten jüdischen Gemeinde in Zürich zeigte damals seinen Film im Gemeindehaus, ich moderierte als Kommissionsmitglied die Vorpremiere, Samir freute sich über die Unterstützung für den Film.

Doch vor einigen Jahren schloss er sich der BDS-Bewegung an, setzte sich dafür ein, dass israelische Filme vom Filmfestival Locarno ausgegrenzt werden sollten, und heute spricht er von der »white supremacy« der Israelis. »Seine« Mizrahim hat er offenbar vergessen. Kürzlich hat der NCBI, der sich gegen Muslim- und Judenfeindlichkeit einsetzt, den Vorstand aufgelöst – Samir hatte darin Einsitz.

Die Schweizer Filmakademie hingegen stört es bis heute nicht, dass ihr Co-Präsident u.a. behauptet, die Israelis selbst hätten am 7. Oktober die Kibbuzim zerstört.

Was geschah in meinen politischen Kreisen, als die Videos der hundertfachen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen werden konnten?

Was geschah in meinen politischen Kreisen, als die Videos der hundertfachen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen werden konnten? Nach einigen wenigen geschockten Beileidsbekundungen sehr lange nichts mehr. Es wurde gespenstisch still. Und schon wurde die Gewalt meisterhaft relativiert.

Mein Autorenkollege Jürg Halter, der es wagt, zu stören, wenn sich alle wieder einmal ihrer Gruppenidentität versichert haben, nannte es das »dröhnende Schweigen« gerade auch der privilegierten Linken in Europa. Einmal mehr wurde er angefeindet – er sei eben nach rechts gerutscht, hieß es.

Ein Lichtblick war, als mich eine befreundete Autorin betroffen anrief und wir miteinander die Protest-Veranstaltungsreihe »Autor:innen gegen Hass« ins Leben riefen. Mittlerweile machen trotz einigen beredt einsilbigen Absagen über 35 Schweizer Schriftsteller:innen mit, und wir sind in der ganzen Schweiz unterwegs. Zu den Lesenden gehören queere, jüdische, jenische Autor:innen ebenso wie muslimische oder solche, die andere ‘weiß’ nennen – auch so eine falsche Homogenisierung von Komplexität; letzteres kritisiere ich als Kennerin der Geschichte der Post Colonial Studies ganz bewusst.

Seit dem 7. Oktober fühlt sich das Leben als linke Jüdin so an, als stehe man auf einer kleinen Eisscholle. Einer, die stark schwankt und zusehends schmilzt.

In Gesprächen mit Bekannten und Freunden öffnen sich Gräben, es gibt keine Selbstverständlichkeiten mehr

Bei vielen Gesprächen mit Bekannten und Freunden öffnen sich Gräben, es gibt keine Selbstverständlichkeiten mehr. Auch nicht, was eindeutige Fakten, sexualisierte Gewalt oder Grundwerte einer freien, demokratischen Gesellschaft anbelangt.

Ein Bekannter versicherte mir, wie schrecklich die Hamas-Angriffe gewesen seien – um nachzuschieben: Sie hätten Siedler angreifen sollen. Wirklich? Dann wäre das bestialische Morden gerechtfertigt gewesen?

Die Irritation ist geblieben, meine Wunde. Eine andere Bekannte fragte mich, warum die Israelis so viele Menschen im Gazastreifen töten würden. Von der Kriegsstrategie der Hamas, Zentralen unter Krankenhäusern und in Wohngebieten einzurichten, war sie überrascht zu hören.

Nun, vielleicht nicht erstaunlich, wenn selbst die gut dotierte öffentlich-rechtliche SRF nicht recherchiert. Am Abend der Messerattacke eines 15-Jährigen auf einen Juden in Zürich – er stach ganze neun Mal zu, filmte seine Tat, rief »Allahu akbar!« – informierte SRF zur Prime Time: »Die jüdische Gemeinschaft geht von einem antisemitischen Hassverbrechen aus.«

Sarah El Bulbeisi nennt die Vergewaltigungen von Frauen am 7. Oktober Fake News – zu lange unwidersprochen

Auf ein Podium von Schauspielhaus und Onlinezeitschrift Republik – deren begeisterte Anfangsabonnentin ich war – wird ein enges Spektrum von Stimmen eingeladen. Ein verbreitetes Phänomen, wenn es darum geht, in Europa diesen neuesten Krieg zu »erklären«: Die jüdischen Gäste sind nur israelkritische, und dazu lädt man Menschen mit antisemitischen Ansichten. Sarah El Bulbeisi nennt die Vergewaltigungen von Frauen am 7. Oktober Fake News – zu lange unwidersprochen von den anderen Podiumsteilnehmenden. Man bleibt höflich-temperiert. Bis es zu spät ist.

Lesbische Freundinnen, die sich seit vielen Jahren in Antifa-Gruppen und Frauenstreiks engagieren, sind ebenfalls einsam geworden: Sie distanzieren sich vom Israel-Hass und Antisemitismus, der heute in den meisten Gruppen vorherrscht. Islamistische Jugendliche planten einen Anschlag auf die Pride. Doch das irritiert Queers for Palestine noch immer nicht.

Antisemitische Parolen pflastern heute Schweizer Städte, jüdische Zürcher Galerien und solche, die jüdische Künstler einladen. Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz erlebt zurzeit einen Exodus ihrer jüdischen Mitglieder. Und ich denke, vielleicht müsste man eine neue Partei gründen: eine linke Partei, die diesen Namen verdient – und nicht antisemitisch ist.

Glosse

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