Grzegorz Rossoliński-Liebe ist ein deutsch-polnischer Historiker und Privatdozent an der Freien Universität Berlin. Er hat jüngst ein Buch veröffentlicht mit dem Titel »Polnische Bürgermeister und der Holocaust. Besatzung, Verwaltung und Kollaboration« (erschienen bei De Gruyter Oldenbourg).
Dieses 1100 Seiten lange Werk, das bislang nur auf Deutsch publiziert wurde, hat in Polen eine Welle der Empörung ausgelöst. Eine Empörung, die, wie man hinzufügen sollte, auf Unwissenheit beruht. Denn nur wenige oder womöglich gar keine seiner Kritiker dürften Rossoliński-Liebes Buch gelesen haben.
Mit Kritik muss man als Historiker immer rechnen. Sie ist der Preis, den wir für unsere Präsenz in der Öffentlichkeit zahlen. Doch ein Angriff durch staatliche Institutionen eines Nachbarlandes ist etwas grundlegend anderes. Genau das ist im Fall von Rossoliński-Liebe passiert. So forderte der polnische Botschafter in Deutschland einen Mitarbeiter einer deutschen Gedenkstätte dazu auf, Rossoliński-Liebes geplanten Vortrag in der Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors Ende November abzusagen, was dann auch geschah.
Zudem veröffentlichte das polnische Institut für Nationales Gedenken (IPN), eine Einrichtung der polnischen Regierung, eine vernichtende, 47 Seiten lange »Rezension« des Buches. Ich setze Rezension bewusst in Anführungszeichen, denn das IPN ist keine akademische Einrichtung, sondern besteht aus Beamten, die Anweisungen ihrer Vorgesetzten umzusetzen haben. Die Buchbesprechung des IPN hat nichts mit einem auf Argumenten basierenden Disput unter Historikern zu tun.
Polnische Wissenschaftsakademie unterstützt Kampagne gegen Rossoliński-Liebe
Auch mir ist Ähnliches mit »Night Without End« widerfahren, einem Buch, das ich mitverfasst und mitherausgegeben habe. Der polnische Staat wirft ihm missliebige Historiker einfach vor den Bus. Im Fall von Rossoliński-Liebe geschah das sogar mit deutscher Unterstützung.
Vor einigen Tagen hat die Polnische Akademie der Wissenschaften auf ihrer Facebook-Seite die Petition einer rechtsradikalen Stiftung veröffentlicht, die seit über einem Jahr gegen Rossoliński-Liebe hetzt. Wie tief muss man sinken, um als Akademie der Wissenschaften mit einer solchen Stiftung zusammenzuarbeiten? Wäre es die Royal Society of Canada gewesen, bei der ich Mitglied bin, hätte deren Leitung sofort eingegriffen, eine Untersuchung eingeleitet und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen.
Warum aber macht eine Institution des polnischen Staates Stimmung gegen einen unabhängigen und angesehenen Historiker? Die Antwort ist vermutlich einfach: Es hat mit der wachsenden Macht der Nationalisten in Polen zu tun.
Ich habe versucht, Freunde und vor allem Historiker aus Deutschland und Polen darauf aufmerksam zu machen, dass unser Kollege von Institutionen des polnischen Staates mit Hilfe deutscher Beamter angegriffen wird. Bislang ohne Erfolg. Einige haben mir gesagt, es gefalle ihnen auch nicht, was Rossoliński-Liebe schreibe. Andere wollen sich nicht mit den Behörden anlegen.
Eine deutsche Historikerin, die sich mit dem Holocaust befasst und Leiterin einer wichtigen Forschungsstelle sowie eine Freundin von mir ist, ließ meine Bitte um Unterstützung unbeantwortet. Das macht mich traurig, denn es erinnert mich daran, was Konformismus, Opportunismus und Angst in der deutschen Geschichte verursacht haben. Deutsche Historiker – gerade sie – sollten eigentlich wissen, was die Folgen von Anpassung und Opportunismus sein können.
Im vorliegenden Fall wirken sie nicht nur leise und schüchtern. Sie verhalten sich feige. Ich höre oft in Deutschland, man dürfe den Menschen in Osteuropa, die im Zweiten Weltkrieg von den eigenen Vorfahren so grausam behandelt wurden, keine moralischen Vorträge halten. Als deutscher Historiker habe man eben kein Recht, sich mit anderen Tätern als den eigenen zu beschäftigen. Aber das ist falsch! Entweder schreibt man Geschichte so auf, wie sie sich zugetragen hat. Oder man versteht sie einseitig, quasi, um sich vor ihr zu schützen.
Instrumentalisierung der Geschichte?
Um das Schweigen etwas besser zu verstehen, sei ein Hinweis auf Andreas Wirsching, den ehemaligen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, und den früheren deutschen Außenminister Heiko Maas gestattet. Im Mai 2020 veröffentlichten die beiden im »Spiegel« einen gemeinsamen Artikel mit dem Titel »Keine Politik ohne Geschichte«. Er erschien zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in vielen Sprachen und fasste das deutsche Problem mit der Geschichte zusammen.
Wörtlich schrieben Wirsching und Haas: »Deutschland allein trägt die Verantwortung für das Menschheitsverbrechen des Holocaust. Wer daran Zweifel sät, und andere Völker in eine Täterrolle drängt, der fügt den Opfern Unrecht zu. Der instrumentalisiert Geschichte und spaltet Europa.«
Was der Professor und der oberste Diplomat da formulierten, war nicht nur falsch. Es war auch zutiefst unverantwortlich. Denn es war eine Ermutigung für europäische Faschisten und Nationalisten, die seit Jahrzehnten behauptet hatten, ihr Volk, ihre Helden, ihre Vorfahren hätten rein gar nichts mit dem Holocaust zu tun gehabt und die Vernichtung der europäischen Juden sei einzig und allein ein deutsches Unterfangen gewesen.
Nur ein Prozent der drei Millionen polnischen Juden überlebten die Schoa
Rossoliński-Liebes Buch zeigt, wie unzulänglich diese These ist. Es zeigt, dass der Holocaust eben auch ein Projekt war, an dem sich unzählige nichtdeutsche Täter beteiligten. Entweder weil sie sich an jüdischem Eigentum bereichern wollten. Oder weil sie selbst den Juden nach dem Leben trachteten. Ohne die – oftmals enthusiastische – Zusammenarbeit und Komplizenschaft von Millionen nichtdeutscher Mittäter, die Juden beraubten, verrieten und ermordeten, wäre der von Deutschen entworfene Völkermordplan weniger schnell und gründlich in die Tat umgesetzt worden.
In Polen, dem Land, auf das Rossoliński-Liebe und ich unseren Fokus legen, überlebte nur 1 Prozent der Juden die deutsche Besatzung! In Zahlen: Nur 30.000 der 3.000.000 polnischen Juden. Ein Teil der Verantwortung für die beispiellose Gründlichkeit des Massenmords liegt bei nichtdeutschen Akteuren. Aus unterschiedlichen Gründen –ideologischen, religiösen oder wirtschaftlichen – halfen sie mit, die »Endlösung der Judenfrage« voranzutreiben.
Sicher, die Situation war in jedem besetzten Land unterschiedlich. Aber kann man mit Wirsching und Maas wirklich behaupten, dass Deutschland allein für den Holocaust verantwortlich war? Was ist mit den unzähligen Litauern, Polen, Ungarn, Ukrainern, Letten, Slowaken, Rumänen und so vielen anderen Völkern des besetzten und unbesetzten Europas, die die Deutschen beim Völkermord unterstützen?
Es ist schade, dass deutsche Historiker nun dabei mithelfen, wie diese historischen Tatsachen unter den Teppich gekehrt werden sollen. Dass sie betreten schweigen angesichts eines staatlich geförderten Angriffs auf unsere Zunft. Aber vielleicht täusche ich mich ja und es gibt doch welche, die den Mund aufmachen und sich nicht einschüchtern lassen.
Professor Jan Grabowski (63) ist polnisch-kanadischer Historiker. Er lehrt und forscht zur Geschichte des Holocaust an der University of Ottawa in Kanada.